Wie resilient ist unsere Lebensmittelversorgung?

Die Vernetzung der globalen Lebensmittelkette ist stark anfällig für Störungen aller Art. © Fraunhofer IVV

Zeitweise leere Regale während der Corona-Krise zeigten, dass die Antwort auf diese Frage dringlicher denn je ist. Eine garantierte Versorgung der Menschen mit gesundheitlich unbedenklichen sowie hoch qualitativen Lebensmitteln ist eine der wesentlichen systemrelevanten Aufgaben, die jedoch vielschichtigen Einflüssen unterliegt und die angesichts einiger Schwachstellen im System in vielerlei Hinsicht neu gedacht werden muss. Dieses Ziel haben sich Forschende von sechs Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft gesetzt und gemeinsam die Initiative »Resiliente Systemarchitektur zur Sicherung der Lebensmittelproduktion« (ReSearchL) gegründet.

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Prof. Dr. Andrea Büttner, geschäftsführende Institutsleiterin vom Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung IVV, das die Federführung für die Initiative innehat: »Um die Versorgung mit qualitativ hochwertigen Lebensmitteln auch in Zukunft – und nicht nur in Krisenzeiten – sicherzustellen, müssen die Weichen entlang der Wertschöpfungskette in der Ernährungswirtschaft neu gestellt werden.« Die Vernetzung des weltweiten Lebensmittelsystems ist hoch komplex. Die Lebensmittelversorgung greift sowohl auf lokal als auch auf global stark verzweigte Lieferantennetzwerke und Lieferketten zurück. Angesichts verknappender Ressourcen und der Herausforderungen durch den Klimawandel wird sie darüber hinaus zunehmend gefährdet. Weiter führt die wachsende Standortkonzentration der Lebensmittelproduktion zu kritischen Infrastrukturen und systemischen Risiken.

Mit der Initiative ReSearchL verfolgen die Forschenden der Fraunhofer-Institute das Ziel, die Resilienz der Systemarchitektur von Nahrungsmittelproduktionen analysierbar, bewertbar und gestaltbar zu machen. Der Fokus liegt vor allem darauf, relevante Daten zu gewinnen, um Lösungsansätze für eine verbesserte Resilienz zu generieren. »Dazu müssen Risiken und Schwachstellen einzeln und in Wechselwirkung zu einander betrachtet werden.

Der Faktor Mensch spielt in der Lebensmittelproduktion eine zentrale Rolle, beispielsweise ist Personal mitunter die knappste Ressource«, sagt Dr.-Ing. Marc Mauermann vom Fraunhofer IVV und Verantwortlicher für die Initiative. Anhand der Beispiele der Pflanzenöl- und Proteinproduktion (Neuartige Ölmühle) und des Vertical Farmings werden Strategien einer resilienten Wertschöpfung entwickelt, die als Machbarkeitsstudie umgesetzt werden. Die Erkenntnisse helfen zukünftig, Werkzeuge und Technologiebausteine zu entwickeln, die in nationalen und internationalen Krisenszenarien als Lösungsansätze dienen können.

Neuartige Ölmühlen

Pflanzenöle werden in Mitteleuropa in großen Ölmühlen fast ausschließlich aus Raps oder Sonnenblumen gewonnen. Das europäische Pflanzenöl- und Tierfuttersystem ist durch diese fehlende Rohstoffdiversität, die großen Produktionsanlagen, dem geringen Wert der heimischen Futtermittelschrote und der daraus resultierenden Abhängigkeit von Transporten aus Asien und Südamerika sehr anfällig gegenüber Ernteausfällen, Pflanzenkrankheiten, kriminellen Manipulationen oder terroristischen Anschlägen.

An der Prozesskette für die Neuartige Ölmühle wird auf Basis leistungsfähiger Modelle untersucht, welche (Wieder-)Anlaufstrategien zur Minimierung der Auswirkung von Störszenarien anwendbar sind oder wie durch die Integration einer simultanen Proteingewinnung in die Ölproduktion eine Steigerung der Wertschöpfung und des Erlöses erzielbar ist.

Vertical Farming

Das Vertical Farming ist im Gegensatz zur Ölgewinnung durch die modulare und geschlossene Bauweise resilienter gegenüber Umwelteinflüssen. Jedoch ist dieser kontrollierte Produktionsansatz aufgrund der kontinuierlich zu gewährleistenden Indoor-Rahmenbedingungen anfällig gegenüber technischen und bedingt auch gegenüber biologischen Störungen. Vor diesem Hintergrund werden Maßnahmen zur Steigerung der technischen und ökologischen Resilienz entwickelt und experimentell getestet.

Die hierbei entwickelten Ansätze dienen zukünftig als neue Ausgangsbasis für weiterführende Resilienzstrategien, wie beispielsweise den flexiblen Wechsel von einer kurzfristigen, nährstoffarmen Standardpflanzenproduktion auf eine längerfristige, kohlenhydratreiche Pflanzenproduktion, um die Grundversorgung in Krisenzeiten zu sichern.

Neuer wissenschaftlicher Ansatz

Resiliente Wertschöpfungsketten in der Ernährungswirtschaft zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass Lebensmittel und deren Vorprodukte geliefert werden können – sie sind vor allem durch sichere Lebensmittel gekennzeichnet. Die Lebensmittelsicherheit mit ihren komplexen Einflüssen in der Lieferkette, aber vor allem auch in der Produktion muss deshalb ebenso berücksichtigt werden, wenn es um die resiliente Lebensmittelproduktion geht.

ReSearchL stellt dies in den Mittelpunkt und verfolgt damit in der Wissenschaft einen neuen Ansatz, der dank der Zusammenarbeit der beteiligten Institute aus den Verbünden Ressourcentechnologien und Bioökonomie, IuK und Mikroelektronik sowie Produktionstechnik über die komplementären Kompetenzen in Verarbeitungstechnik, Lebenswissenschaften, Produkt- und Prozessentwicklung, Digitalisierung und Datenmanagement, Supply Chain und Energieversorgung gewährleistet ist. Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit werden neue Lösungsansätze entwickelt, die der verstärkten Forderung nach Resilienz in der Nahrungsmittelproduktion in deren Komplexität gerecht wird.