Nur noch rund 330 Gigatonnen CO₂ dürfen laut Weltklimarat IPCC dauerhaft in die Atmosphäre, wenn die Erderhitzung auf 1,5 Grad begrenzt werden soll. Doch wie tangieren die neuerdings geäußerten Netto-Null-Zusagen die globale Gerechtigkeit? Wie die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft entlang von Prinzipien fairer Lastenverteilung ablaufen kann, das beleuchtet eine Studie unter Federführung des Berliner Klimaforschungsinstituts MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change).
Gleichwertigkeit ist ein Wesensmerkmal der globalen Klimadiplomatie. In der 1992 beschlossenen Klimarahmenkonvention UNFCCC ist von „gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortlichkeiten“ die Rede, und das Pariser Weltklimaabkommen von 2015 schafft bewusst Raum für unterschiedliche nationale Anstrengungen – mit Blick auf Zumutbarkeit, Entwicklungsstand und historische Emissionen.
„Wie man den nationalen Gegebenheiten gerecht werden und trotzdem die in Paris verabredeten globalen Temperaturziele einhalten kann, das wird ein zentrales Thema des bevorstehenden Weltklimagipfels in Glasgow“, sagt Dominic Lenzi, Wissenschaftler in der MCC-Arbeitsgruppe Wissenschaftliche Assessments, Ethik und Politik und Leitautor der Studie. „Mit unserem Papier wollen wir hervorheben, wie wichtig bei der Umsetzung von Netto-Null-Zusagen in konkrete Politik der Gleichwertigkeitsaspekt ist.“
Um die Optionen für eine gerechte Netto-Null-Zukunft auszuleuchten, machte das Autorenteam ein Gedankenexperiment auf Basis von drei stilisierten Zukunftspfaden, die alle unter bestimmten Umständen mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar sind: (1) Alle Staaten schaffen im Gleichschritt Klimaneutralität 2050, (2) die Industrieländer schaffen Klimaneutralität bis 2030 und die Nicht-Industrieländer haben Zeit bis 2070 und (3) die Welt nimmt einen „Überziehungskredit“ bei der Atmosphäre auf und schafft Klimaneutralität erst 2050 (Industrieländer) und 2080 (Nicht-Industrieländer). Für diese drei Zukunftspfade untersucht die Studie systematisch die potenziellen Gerechtigkeitseffekte von CO₂-Bepreisung mit CO₂-Grenzausleich, von Finanztransfers sowie von Technologien zur CO₂-Entnahme aus der Atmosphäre:
- Der Überziehungskredit funktioniert nur mit massivem Ausbau von CO₂-Entnahme aus der Atmosphäre. Das geht aus heutiger Sicht am ehesten durch Abscheiden und Speichern von CO₂, in Verbindung mit dem Verfeuern schnell wachsender Biomasse aus Klima-Plantagen. Die kostengünstigsten Standorte dafür liegen im globalen Süden – der mit unverhältnismäßiger Inanspruchnahme von Land und Wasser konfrontiert würde, verbunden mit Problemen etwa für Nahrungsmittelsicherheit und Artenvielfalt.
- Die Industrieländer im Turbogang schon bis 2030 auf fossilfreies Wirtschaften umzustellen, wäre allenfalls denkbar in Kombination mit intensivem Einsatz von CO₂-Grenzausgleich zum Schutz heimischer Industrie. Das liefe auf Exportbarrieren für Anbieter im globalen Süden hinaus, was die ökonomische und soziale Entwicklung bremsen würde.
- Damit das Szenario „Klimaneutralität 2050 im Gleichschritt“ nicht völlig unrealistisch ist, müssten sich die Finanzhilfen der Industrieländer an die übrige Welt vervielfachen. Das entspräche der gängigen Auffassung von gerechter Lastenteilung, kann aber bei Empfängern Abhängigkeiten, Währungsturbulenzen und Fehlanreize schaffen und in Geberländern schwer zu vermitteln sein.
„Keiner dieser drei Wege zu netto null Emissionen weltweit erscheint eindeutig gut oder schlecht, und es kommt sehr darauf an, wie die Politik umgesetzt wird“, betont MCC-Forscher Lenzi. „Quantitative Modellstudien auf Basis unserer drei stilisierten Zeitpfade könnten helfen, die globalen Spannungsfelder von Klimaschutz und Gleichwertigkeit genauer auszumessen. Die Politik muss klären, wie ihre Visionen von Dekarbonisierung sowohl dem Prinzip der Effektivität als auch der Fairness entsprechen können.“