In mehreren Ökosystemen Europas sind „Allerweltsarten“ auf dem Vormarsch und verdrängen seltenere Pflanzenarten. Dadurch werden die Pflanzengemeinschaften immer ähnlicher. Diese Entwicklung hat ein internationales Team unter Leitung des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) erstmals sowohl im Hochgebirge als auch in Wäldern und Wiesen des Tieflands nachgewiesen. Einer der Hauptgründe für diese Artenverschiebung könnten erhöhte Stickstoffmengen in den Böden aus Landwirtschaft und Luftverunreinigung sein.
Derzeit wird angenommen, dass weltweit zwei von fünf Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind. Doch während dieser Trend auf globaler Ebene klar erkennbar ist, ist ein Rückgang der Artenzahl lokal oft nicht zu beobachten. Welche Prozesse hinter diesem von Biodiversitätsforschenden als „Biodiversitätsparadox“ bezeichneten Phänomen stehen könnten, blieb bislang weitgehend ungeklärt.
Ein internationales Wissenschaftsteam unter Leitung von iDiv und MLU hat diese Frage nun anhand der Verschiebung der Artenzusammensetzung erstmals in drei sehr unterschiedlichen Lebensräumen untersucht: in alpinen Gipfelzonen, in der Krautschicht von Wäldern sowie in artenreichen Wiesen und Weiden im Tiefland.
Die Ergebnisse zeigen: Pflanzenarten mit großräumiger Verbreitung und einer Vorliebe für nährstoffreiche Lebensräume haben in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen, wohingegen Arten mit kleinen Verbreitungsgebieten auf nähstoffärmeren Böden im Rückgang begriffen sind. In den alpinen Gipfelzonen überwiegt noch die Artenzahlzunahme, hauptsächlich durch Vordringen der allgemein weiter verbreiteten Arten der tieferen Lagen nach oben. „Langfristig ist jedoch auch hier eine Verdrängung zu erwarten“, sagt Erstautor Dr. Ingmar Staude von iDiv und der MLU.
„Wir beobachten, dass sich diese Dynamik in naturnahen Lebensräumen entfaltet, also an Orten, von denen wir erwarten würden, dass sie sichere Zufluchtsorte für spezialisierte Arten und solche mit hohem Erhaltungswert sind“, sagt der Biologe. „Das deutet darauf hin, dass das Anthropozän nicht vor den Türen der wenigen verbliebenen Wildnisgebiete Halt macht, die wir als geschützt betrachten.“
„Beunruhigend ist auch, dass der Artenwandel in markant unterschiedlichen Ökosystemen ganz ähnlich abläuft, weshalb wir davon ausgehen müssen, dass wir es mit einem sehr weit verbreiteten Phänomen zu tun haben“, sagt Zweitautor Prof. Henrique Pereira, der die Forschungsgruppe „Biodiversität und Naturschutz” am iDiv und an der MLU leitet.
Grundlage für die Datenanalyse waren wiederholte Erhebungen des Artenbestands auf 141 Untersuchungsflächen in 19 europäischen Ländern. Die ältesten Datensätze reichen bis in die 1940er-Jahre zurück und beschreiben die zeitlichen Zu- und Abnahmen von insgesamt 1.827 Pflanzenarten. „Die Feldarbeit der zahlreichen an dieser Studie beteiligten Vegetationsforscher ermöglichte einen einzigartigen Einblick in die Vergangenheit, um Veränderungen von Pflanzengemeinschaften in den letzten Jahrzehnten zu studieren“, sagt Ingmar Staude.
Woher dieser Wandel kommt?
„Die wesentlichen Treiber dieses ungünstigen Prozesses sind erhöhte Nährstoffmengen in den Böden, etwa infolge von Stickstoffeinträgen vor allem aus der Landwirtschaft, aber auch aus Verbrennungsprozessen in Verkehr und Industrie sowie durch die Erwärmung der Böden durch den Klimawandel, speziell im Hochgebirge“, erklärt Mitautor Dr. Harald Pauli vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW. Aussagekräftige Indikatoren für hohe Stickstoffwerte sind die Pflanzenarten selbst: „Es gibt viele Arten, die Stickstoff verlässlich anzeigen, etwa die Brennnessel.“
Die erhöhten Stickstoffmengen wirken sich gleich zweifach ungünstig aus: Einerseits fördern sie das Wachstum der weitverbreiteten stickstoffliebenden Arten. Andererseits führt dies zu erhöhter Beschattung, was die Verdrängung der kleinwüchsigen, selteneren Spezialisten für nährstoffarme Standorte zu Folge hat. „Jede Art, die verloren geht, ist ein unwiederbringlicher Verlust und hat Auswirkungen auf das Ökosystem. Denn: Die verschiedenen Pflanzenarten stehen in Interaktionen mit Insekten, aber auch mit anderen Lebewesen, etwa mit Bodenorganismen“, sagt Harald Pauli.
Natürliche Ökosysteme wurden in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in Ackerland und in intensiv bewirtschaftetes Grünland umgewandelt. Diese Landnutzungsveränderungen sind Haupttreiber der Biodiversitätskrise. „Jedoch mag es überraschen, dass sich ein systematischer Artenwandel auch in den naturnahen Untersuchungsflächen unserer Studie, also fernab der ohnehin stark degradierten Flächen der intensiven Agrar- und Siedlungsräume vollzieht“, sagt Henrique Pereira. „Eine stetige Verdrängung charakteristischer Arten einzigartiger Ökosystemen durch weit verbreitete Arten mag zwar die lokale Artenvielfalt vielerorts aufrecht erhalten, führt aber global gesehen dazu, dass immer mehr Arten vom Aussterben bedroht sind.“