Die politische Ökonomie der Kohleenergie

Anlage Loy Yang in Australien: Weltweit gab es Mitte 2021, laut Global Energy Monitor, 2445 Kohlekraftwerke. | Foto: Shutterstock/Charnley

Nach vierjähriger Vorarbeit ist heute ein beispielloses Forschungswerk zur „politischen Ökonomie der Kohle“ veröffentlicht worden. Es zeigt, warum dieser besonders klimaschädliche Brennstoff immer noch zur Stromproduktion genutzt wird – nach intensiver Vor-Ort-Recherche in den einzelnen Ländern auf Basis eines stringenten wissenschaftlichen Konzepts. Im Einzelnen geht es um Australien, Bulgarien, Chile, China, Deutschland, Großbritannien, Indien, Indonesien, Kenia, Kolumbien, die Philippinen, Südafrika, die Türkei, die USA und Vietnam: Diese 15 Länder kommen auf 80 Prozent aller in Betrieb, Bau oder Planung befindlichen Kohlekraftwerkskapazität.

Die Federführung des Projekts lag beim Berliner Klimaforschungsinstitut MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change). Die Veröffentlichung mit 15 einheitlich konzipierten Fallstudien und einer Querschnittsauswertung kann man als Buch kaufen, sie ist auch im Internet frei erhältlich. „Wir unterstützen damit den Prozess eines weltweiten Kohleausstiegs“, erläutert Jan Steckel, Leiter der MCC-Arbeitsgruppe Klimaschutz und Entwicklung und einer der beiden Herausgeber. „Im Umfeld der letzten Weltklimakonferenz gab es dafür ja schon vielversprechende Signale. Jetzt beleuchten wir die speziellen politischen Konstellationen, die bisher die Kohlewirtschaft stützen, und damit auch die jeweiligen Ansatzpunkte für eine nationale Energiewende.“

Beteiligt waren 36  Wissenschaftler an renommierten Institutionen rund um den Globus. Sie alle gingen bei ihren Länderstudien nach dem am MCC entwickelten Analyserahmen „Actors, Objectives, Context“ vor: Was sind die Akteure mit dem größten Einfluss auf politische Entscheidungen, was sind ihre Ziele, und was beeinflusst den Stellenwert dieser Ziele, also den Energiemix? Das Ergebnis ist ein detailliertes Erklärmuster der weltweiten Kohlenutzung.

Diese ist trotz beträchtlicher Zuwächse bei erneuerbaren Energien keineswegs im Niedergang. Würden alle weltweit betriebenen, in Bau befindlichen und geplanten Kohlekraftwerke bis zum Ende ihrer ökonomisch erwarteten Lebenszeit laufen, würden sie rund 300 Milliarden Tonnen CO₂ ausstoßen, damit für sich genommen das verbleibende CO₂-Budget für das 1,5-Grad-Ziel nahezu aufbrauchen und selbst das 2-Grad-Ziel in Gefahr bringen.

So sorgen vielerorts hohe Kapitalkosten dafür, dass sich die pro Megawatt in der Anschaffungsphase teureren Wind- oder Solarparks nicht gegen Kohlekraftwerke durchsetzen können. Obendrein wird Kohleverstromung oft durch staatliche Preisgarantien bevorteilt. Es gibt regionale Abhängigkeiten von Arbeitsplätzen und Steuerzahlungen der Kohlewirtschaft, auch von ihren Investitionen in die Infrastruktur, etwa Eisenbahnlinien.

Die Länderstudien beschreiben zudem personelle Verflechtungen mit dem Regierungsapparat, Auswirkungen von Korruption, die mitunter fragwürdige Rolle von Provinzregierungen sowie die Bedeutung der mit Kohle erzielten Wertschöpfung beim Einhegen innenpolitischer Konflikte.

Daraus ergeben sich für unterschiedliche Ländergruppen sehr unterschiedliche Politik-Empfehlungen. Bei Ländern, die ihr Energiesystem erst aufbauen, geht es viel um Finanzierung und Technik für nachhaltige Lösungen. Bei etablierten Kohle-Nutzern geht es um Energiemarkt-Liberalisierung, um institutionelle Reformen sowie um Kompensationsmechanismen – zum Beispiel für Beschäftigte in der Kohle-Wirtschaft, aber auch Eigentumsrechte an Kohleminen.

Bei Ländern mit eingeleitetem Kohleausstieg sollte eine CO₂-Bepreisung plus Anschubförderung für Erneuerbare im Vordergrund stehen. Und bei Ländern, die viel Kohle exportieren, geht es um Strukturwandel und um neue Chancen in der internationalen Arbeitsteilung.

„Ein für alle Ländergruppen wichtiger Aspekt ist das Zusammenwirken der Governance-Ebenen“, betont Michael Jakob, lange Zeit Senior Researcher und inzwischen Fellow am MCC und ebenfalls Herausgeber des Forschungswerks. „Ein nationaler Kohleausstieg muss in den Regionen umgesetzt werden – und nach Möglichkeit in länderübergreifende Strukturen eingebettet sein.“

Ihr internationales Ansehen zu stärken und finanzielle Unterstützung für den Ausstieg zu erzielen, das könne für so manche Staatsführung zu einem entscheidenden Motiv für den Kohleausstieg werden. „Beispielhaft ist hier die kürzlich erfolgte Ankündigung der USA, Großbritanniens, Deutschlands und weiteren Staaten, Südafrika beim Kohleausstieg und bei einer sozial ausbalancierten Energiewende zu helfen.“