In einem interdisziplinären Projekt haben Forschende der Helmholtz-Klima-Initiative eine Vision für Deutschland im Jahr 2050 entworfen, die Wege zu einem kohlendioxid-neutralen Leben und Wirtschaften aufzeigt. In ihrer Studie, die jetzt im Fachmagazin Earth’s Future erschienen ist, schauen sie aus einer fiktiven Zukunft auf die heutige Gegenwart zurück.
Deutschland im Jahr 2050. Das Ziel eines kohlendioxid-neutralen Lebens und Wirtschaftens ist erreicht: Der Treibhausgas-Ausstoß ist drastisch gesunken, und nicht vermeidbare Emissionen werden ausgeglichen. Zur Vermeidung und Reduzierung tragen vor allem eine veränderte Energieversorgung und neue Lösungen in der Industrie, im Transport und im Verkehr bei. Anpassungen in der Landwirtschaft und im Landmanagement, etwa durch die Wiedervernässung von Mooren und Wiederherstellung von Seegraswiesen helfen, Kohlenstoff auf natürliche Weise einzulagern. Hinzu kommen technologische Ansätze zur Entnahme und Speicherung von Kohlendioxid (CO2).
In der ungewöhnlichen Studie schauen 37 Forschende des Schwerpunkts „Netto-Null-2050“ der Helmholtz-Klima-Initiative aus der Zukunft auf die heutige Gegenwart zurück. In einem sogenannten „Backcasting“-Ansatz führen sie Analysen aus Energiesystemmodellen, Erkenntnisse zur Kreislaufwirtschaft im Kohlenstoff-System und Auswertungen des nationalen Potenzials zur Entnahme von Kohlenstoff zusammen. Die Ergebnisse sind in Form eines Rückblicks auf die Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre aus dem Jahr 2050 zusammengefasst.
„Unsere Vision hilft, die Diskussion stärker auf das Ziel unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu lenken“, erklärt Dr. Nadine Mengis, Klimawissenschaftlerin am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und Koordinatorin der Studie. „Aus unserer Netto-Null-Vision können wir Schlüsse für unser heutiges Handeln ziehen: Wir sehen, dass wir unser Ziel nur erreichen, wenn der Ausstoß von CO2 durch den Ausbau der Erneuerbaren in Rekordzeit drastisch reduziert wird. Außerdem müssen wir alle CO2-Emissionen, die wir nicht vermeiden können, wieder aus der Atmosphäre entziehen. Nur so ergibt sich unterm Strich eine Null-Bilanz.“
Die Vision beschreibt realistische Optionen und das Potenzial eines Netto-Null-Deutschlands. Aus der Betrachtung der verschiedenen Sektoren leiten die Autor:innen drei wichtige Aspekte ab: „Eine zügige Anpassung des Energiesystems an die Versorgung aus erneuerbaren Quellen ist der Schlüssel für das Erreichen von Netto-Null in Deutschland“, erklärt Dr. Mengis. Aber nicht alle Emissionen ließen sich vollständig vermeiden oder reduzieren, so die Wissenschaftlerin. Die Speicherung von Kohlendioxid auf natürlichem Wege könne in Deutschland nur bedingt gesteigert werden.
„Deshalb mussten wir technologische Maßnahmen zur aktiven Entnahme und Speicherung in geologischen Formationen im Erdboden berücksichtigen.“ Je weniger Emissionen von vorneherein eingespart werden, desto relevanter werden diese Ansätze. „Es ist essentiell, vermiedene und entnommene CO2-Emissionen durch die Erweiterung natürlicher Kohlenstoff-Senken zu unterscheiden und zu dokumentieren. Die Wiedervernässung von Mooren ist ein perfektes Beispiel dafür“, ergänzt Dr. Aram Kalhori vom Deutschen GeoForschungszentrum Potsdam (GFZ), Ko-Koordinatorin der Studie.
„In unserer Vision entsteht der Bedarf an technologischen Maßnahmen für die CO2-Entnahme, weil wir zum einen keine starken Veränderungen im individuellen Verhalten annehmen, und zum anderen Emissionen nicht außerhalb des Landes kompensieren wollten,“ fasst Dr. Mengis zusammen. Die Umsetzung aller Maßnahmen erfordere außerdem entsprechende rechtliche und politische Rahmen, wirtschaftliche Flexibilität und gesellschaftliche Akzeptanz.
„Wir benötigen jetzt eine politische und gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir Deutschland auf ‚Netto-Null‘ bringen möchten und müssen mutige Entscheidungen treffen“, so Dr. Mengis. „Unsere Vision für Deutschland im Jahr 2050 ist aber nur ein möglicher Weg. Ob unsere Studie eine wünschenswerte Netto-Null-Zukunft beschreibt oder wir andere Wege gehen wollen – das können wir nur gemeinsam als Gesellschaft entscheiden.“