Prof. Dr. Görge Deerbergs klare Botschaft ist: „Bewusster mit Energie umgehen, keine Energie verschwenden, sondern einsparen, und gleichzeitig mit Vollgas in die neuen und regenerativen Energien rein! Lange Diskussionen können wir uns nicht mehr leisten.“ Einsparen ist für den Professor für Umweltwissenschaften an der FernUniversität grundsätzlich eine gute Idee, auch hinsichtlich der Klimaproblematik. „Man muss ja nicht deswegen bibbernd in der Wohnung sitzen.“ Wichtig ist, sich des Energieverbrauchs bewusst zu werden und ihn individuell einzuschränken. Wasserstoff ist für ihn noch keine Alternative.
Der Ukraine muss im Krieg geholfen werden. Das ist weitgehend Konsens in Deutschland. Doch was ist, wenn Russland kein Gas, kein Erdöl und keine Kohle mehr nach Deutschland liefern will oder darf? Die Verunsicherung ist groß, Prognosen reichen von „Das ist zu schaffen“ bis zu „Millionen von Arbeitslosen“. Denn es geht nicht nur um Heizen und um Mobilität. Öl, Gas und Kohle sind auch Rohstoffe in der industriellen Produktion.
Prof. Dr. Görge Deerberg hat dazu eine klare Botschaft: „Bewusster mit Energie umgehen, egal in welcher Form, keine Energie verschwenden, sondern einsparen, und gleichzeitig mit Vollgas in die neuen und regenerativen Energien rein! Lange Diskussionen hierzu können wir uns nicht mehr leisten.“ Er ist an der FernUniversität in Hagen Professor für Umweltwissenschaften. Sein Arbeitsbereich leitet im wissenschaftlichen Rahmen das interdisziplinäre Fernstudium Umweltwissenschaften („infernum“) und den Weiterbildungsstudiengang DYNERGY. Das sind wissenschaftliche Weiterbildungsangebote der FernUniversität und des Fraunhofer-Instituts für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT in Oberhausen, dessen stellvertretender Leiter der promovierte Chemie-Ingenieur ist.
Russische Energielieferungen
„In den letzten Jahren, auch in 2021, haben wir immer circa 3.400 Terrawattstunden an Primärenergie in Deutschland verbraucht. Davon stammen alleine etwa 1.000 Terrawattstunden aus Russland“, beschreibt er die dramatische Abhängigkeit Deutschlands, das aus Russland im Wesentlichen Gas, Öl und Kohle importiert. So kommen 35 Prozent des Öls, das in Deutschland weit überwiegend für die Mobilität, aber auch für die chemische Industrie verbraucht wird, von dort. Und 55 Prozent des Erdgases.
Eingesetzt wird es vor allem zum Heizen, insbesondere im privaten Bereich, aber auch in der chemischen Industrie, etwa für die Produktion der Grundstoffe Ammoniak für Dünger und das vielfach verwendete Methanol und andere Chemikalien. Außerdem gibt es mit Erdgas noch eine nennenswerte Wasserstoffproduktion, insbesondere für die Erdölverarbeitung.“
Was passiert, wenn die Lieferungen ausfallen?
Deutsche Braunkohlekraftwerke könnten bei einem Importausfall hochgefahren und theoretisch Atommeiler länger betrieben werden, um fehlende Steinkohle zu ersetzen. Deerberg: „Wir müssten wohl auch Strom importieren. Das könnte vom französischen Atom- über polnischen Braunkohle- bis hin zu ‚sauberem‘ Strom reichen, der in Österreich oder Skandinavien durch Wasserkraft gewonnen wird.“
Nationale Erneuerbare Energien würden kaum ausreichen, um große Ausfälle unmittelbar auszugleichen, weil z.B. nicht schnell genug entsprechend viele Windräder errichtet werden könnten. Gewisse Verstromungsreserven könnten kurzfristig bei Biogas-Anlagen zu finden sein, die häufig eine Auslastungsreserve von ein paar Prozent haben.
Kritisch wird es beim Erdöl. Man sieht es an den Tankstellen-Preisschildern, auch wenn hier zurzeit Spekulationen eine Rolle spielen könnten, vermutet Deerberg. Früher oder später dürften bei einem Lieferstopp reale Engpässe eintreten: „Dann wird es im Mobilitätssektor schwierig.“ Die Riesenzahl von Verbrenner-Fahrzeugen ist in kurzer Zeit nicht umzurüsten oder zu ersetzen. Und wo sollte der Strom für viele E-Fahrzeuge herkommen?
Größte Probleme beim Erdgas
„Wirklich schwierig wird es, Erdgas zu ersetzen. Wesentliche Teile der Industrie können ohne das Gas nicht produzieren.“ Auch Raffinerien würden Probleme bekommen, die Düngerproduktion auf Ammoniakbasis würde stocken. Man müsste entscheiden: Wollen wir das Erdgas fürs private Heizen reduzieren oder für den industriellen Bereich?
„Nun versorgen wir uns ‚nur‘ rund zur Hälfte aus Russland mit Energie“ (Deerberg betont die Anführungszeichen). „Andererseits sind wir Mitglied in europäischen Verbundnetzen. Doch viele andere Staaten sind ähnlich aufgestellt. Untereinander jetzt einen Ausgleich hinzubekommen, wird schwierig“, fürchtet der Wissenschaftler.
National bestünde die Möglichkeit, hier und da noch einmal zu „fracken“, um Erdgas zu gewinnen. Aber wegen der hohen Umweltrisiken will das kaum jemand, und es dauert ja auch wieder seine Zeit, bis man so weit ist.
Wie ist es mit Wasserstoff?
„Erdgas kann man in bestimmtem Umfang im Verbundnetz durch Wasserstoff ersetzen. Man muss aber immer bedenken, dass er deutlich weniger Energie enthält als Erdgas.“ Zwar kann die Infrastruktur eine gewisse Energiemenge auf Wasserstoffbasis transportieren, doch reichen weder die Infrastruktur noch die zur Verfügung stehende Wasserstoffmenge aus.
Dem Gesamtenergie-Primärverbrauch von 3.400 Terrawattstunden pro Jahr in Deutschland steht eine Gesamterzeugung von etwa 540 Terrawattstunden erneuerbarer Energie gegenüber. Deerberg: „Da sehen wir schon deutlich, wie groß die Lücke ist, die wir schließen müssen. Wenn wir alles mit Wasserstoff erledigen wollten, würde das lange dauern. Und wir haben gar nicht die Ausbaureserven, um alles hier im Land zu machen. Wir werden also auch da lange auf Importe angewiesen sein.“
Zudem können die Endverbraucher nicht einfach auf Wasserstoff umsteigen: Gasthermen sind technisch nicht auf den Betrieb damit ausgerichtet. Sie müssten umgerüstet oder ausgetauscht werden. Dann könnte es technisch funktionieren. Aber das geht nicht von heute auf morgen. Die Umstellung von L-Erdgas auf H-Erdgas hat in Deutschland Jahre gedauert und ist immer noch nicht beendet.
„Für die Umstellung von einer Erdgassorte auf die andere haben wir schon etliche Jahre gebraucht und die Umstellung auf Wasserstoff wird ja komplizierter sein. Im Moment sagen wir: Fünf Prozent, vielleicht einmal zehn Prozent an Wasserstoff können wir ins Erdgasnetz einspeisen“, erläutert Deerberg. „Ein paar Projekte untersuchen zurzeit, ob Infrastruktur und Endgeräte auch mehr vertragen können.“
Wasserstoffproduktion mit Erdgas und Strom
Es gibt noch keinen Weltmarkt, auf dem man einfach Wasserstoff in großen Mengen einkaufen könnte. Hergestellt wird er einerseits aus Erdgas, etwa im großen Stil für Ammoniak und chemische Industrie. Durch Elektrolyse, also mit Strom, wird dagegen relativ wenig produziert. Die Anlagen dafür werden gerade erst geplant.
Es gibt einige Demonstrationsprojekte, die in den Gigawatt-Bereich vorstoßen, die aber an die Infrastruktur mit den Pipelines noch nicht angebunden sind. Es dauert also noch, bis die Elektrolyseure, die Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff aufteilen, wirklich im großen Maßstab laufen. Sinn macht das allerdings erst, wenn erneuerbarer Strom in der dann erforderlichen großen Menge zur Verfügung steht.
Wasserstoff importieren?
In den vergangenen Jahren zielte das Thema „Import von grünem Wasserstoff“ auch auf Russland ab, weil man diesen dort aufgrund des Windpotentials gut herstellen kann und weil mit blauem Wasserstoff aus Erdgas auch ein schneller Hochlauf möglich wäre. „Davon wird man jetzt wohl abrücken und mehr nach Nordafrika oder sogar Australien schauen müssen. Es gibt ja bereits Projekte, die sich mit dem Wasserstoffimport aus Australien oder aus vielleicht auch problematischen Partnerländern in Südamerika oder China beschäftigen.“ In Südeuropa gibt es ebenfalls Länder, die erneuerbaren Strom und Wasser haben. Doch Deerberg schätzt, dass es mindestens zehn bis 15 Jahre dauert, bis die Infrastruktur aufgebaut ist, zumal eine „gewisse Diversifizierung“ notwendig wäre.
In der aktuellen Situation müsste man ggf. daher in Kauf nehmen, dass für die Elektrolyse Strom aus nicht erneuerbaren Quellen eingesetzt werden muss, also auch Netzstrom mit größerem CO2-Fußabdruck.
Gibt es einen Zusammenhang mit der Energiewende?
Wenn Ende 2022 die Atomkraftwerke abgeschaltet und dann die Braunkohlekraftwerke zurückgefahren werden, muss der prozentuale Anteil von Strom aus erneuerbaren Quellen ansteigen. Der Ausbau muss nun sehr viel schneller erfolgen als in den letzten Jahren. Windräder und Solarzellen erzeugen Strom aber häufig dann, wenn er nicht gebraucht wird. Zu anderen Zeiten wiederum ist die Nachfrage größer als die Erzeugung. Speichern kann man Strom nicht so gut, dafür braucht man dann den Wasserstoff. Deerberg: „Mit dem Umbau im Strombereich müssen wir auch einiges an Wasserstoffinfrastruktur bei uns etablieren.“
Worauf sollte Deutschland sich also vorbereiten?
„Neben dem Umbau aufs Einsparen“, sagt Deerberg. „Das wäre grundsätzlich eine gute Idee, nicht zuletzt auch hinsichtlich der Klimaproblematik: weniger verbrauchen, wie auch immer. Man muss ja nicht deswegen bibbernd in der Wohnung sitzen. Schon ein bis zwei Grad weniger in der Wohnung senken den Verbrauch merklich. Wenn man die Heizung etwas nach unten reguliert, ist man also schon wieder ein Stück des Problems los. Man fährt weniger Auto. Und weniger schnell. Das sind Maßnahmen, mit denen fast jeder einen Beitrag leisten kann. Das löst nicht das ganze Versorgungsproblem in der der aktuellen Energiekrise, es geht ja auch ums Klima.“
Wichtig ist, sich des Energieverbrauchs bewusst zu werden und ihn individuell einzuschränken. „Das hat nichts mit großem Komfortverlust zu tun, aber jeder kann ja mal überlegen, wo man überall Energie verschwendet. Es geht nicht um Einschränkung, sondern darum, Verschwendung zu vermeiden. Einsparungen sind die besten Energiequellen. Gleichzeitig müssen wir unsere Potentiale weiter ausschöpfen. Vielleicht muss man auch eine Zeitlang über seinen Schatten springen und die Kohlekraftwerke weiter am Netz halten. Wenn die Wirtschaft den Gashahn zugedreht bekommt, wird es mit den gesamtwirtschaftlichen Effekten wie Arbeitslosigkeit schwierig. Dann verlieren wir wirklich an Wohlstand. Ein paar Grad weniger im Schlafzimmer erscheinen da nicht so schlimm.“