Artenvielfalt zu fördern, gilt als Kernaufgabe für erfolgreichen Naturschutz. Behindert die strikte Umsetzung des Naturschutzgesetzes hierbei? Das klingt paradox, aber es besteht tatsächlich ein innerfachlicher Konflikt: Um die genetische Vielfalt zu erhalten, darf Wildpflanzensaatgut zur Wiederherstellung von Lebensräumen nur aus regionalen Ursprungsgebieten stammen. Das hat in der aktuellen Praxis zur Folge, dass selbst bei Naturschutz-Maßnahmen viele Pflanzenarten nicht angesät werden dürfen. Ein 20-köpfiges Team am Kompetenzzentrum Kulturlandschaft (KULT) der Hochschule Geisenheim hat in einem Thesenpapier die Schwachstellen des rechtlichen Rahmens analysiert und Handlungsoptionen für mehr Biodiversität aufgezeigt.
Um eine Trendwende in der Biodiversitätskrise zu bewirken, bedarf es in großem Maße einer Aufwertung und Renaturierung von Lebensräumen und Ökosystemen. § 40 des Bundesnaturschutzgesetzes legt fest, dass bei Einsaaten und Pflanzungen seit März 2020 nur solche Pflanzen in der freien Natur ausgebracht werden dürfen, die ihren genetischen Ursprung im betreffenden Gebiet haben. Zur praktischen Umsetzung wurden auf Bundesebene 22 Ursprungsgebiete festgelegt und ein Artenfilter empfohlen, um zulässige Arten für Ansaaten zu ermitteln – mit gravierenden Folgen: Die Zahl der genehmigungsfrei ansiedelbaren Pflanzenarten reduziert sich auf weit verbreitete und ungefährdete Arten.
Damit fehlt es nicht allein an Wildpflanzen, sondern zugleich an einer ungleich höheren Zahl an Tierarten, die diese Pflanzen existenziell benötigen – vor allem pflanzenfressende, pollensammelnde, parasitoide und parasitische Insektenarten. Allein auf der Wiesenflockenblume (Centaurea jacea) leben 99 verschiedene Insektenarten. Ein Drittel der in Deutschland vorkommenden nestbauenden Wildbienenarten sammeln Pollen als Nahrung allein auf einer einzigen oder wenigen nah verwandten Pflanzenarten.
Je höher die Diversität an Wildpflanzen, desto größer ist die ermöglichte Biodiversität an Tierarten und das Ausmaß erbrachter Ökosystemleistungen. Daher sollte die Restriktion für die Ausbringung von Wildpflanzen so gering wie möglich sein, fordern die Expertinnen und Experten. Da die genetische Differenzierung fast aller Wildpflanzen in Deutschland noch unbekannt sei, ließen sich die massiven Einschränkungen bei der Förderung von Artenvielfalt durch Renaturierungen nicht rechtfertigen. Die Autorinnen und Autoren der Studie leiten folgende Empfehlungen ab:
Ziele und Begründungen für die Ausbringung gebietseigenen Saatguts sollten grundlegend überdacht werden. Der Mensch verfrachtet schon über Jahrtausende mit wandernden Weidetierherden Pflanzensamen über große Distanzen. Diese Vektoren fehlen heute weitgehend, stattdessen sind durch intensive Landnutzung Pflanzen- und Tierpopulationen hochgradig fragmentiert. Zudem sind die Konsequenzen aus dem Klimawandel noch weitgehend unbekannt.
• Pflanzenarten, die von Natur aus über große Strecken verbreitet werden können (durch Wind, Vögel oder großräumig agierende Tierarten), benötigen weniger enge Restriktionen für die Wiederansiedlung als solche, die sich nur sehr lokal verbreiten.
• Wildpflanzen-Saatgut muss durch spezialisierte Betriebe angebaut und vermarktet werden. Derzeit bestehen starke Lieferengpässe. Im Falle mangelnder Verfügbarkeit von Arten sollten daher ohne Genehmigungserfordernis standörtlich ähnliche, benachbarte Ursprungsgebiete zulässig sein. Zugleich ist dringend die Verfügbarkeit zu verbessern.
• Der Artenfilter muss durch gebietsspezifische Artenlisten ersetzt werden, welche auch unter Anwendung tierökologischer und ökosystemarer Kriterien interdisziplinär definiert und regelmäßig fortgeschrieben werden.
• § 40 BNatSchG sollte bis 2030 durch eine neue Übergangsregelung angepasst werden, um den Wissens- und Umsetzungsdefiziten zu begegnen. Diese Zeit muss durch intensive Praxisforschung genutzt werden.
„Wir möchten eine reflektierte interdisziplinäre Debatte anstoßen, um das wichtige Ziel genetischer Vielfalt innerhalb der einzelnen Pflanzenarten mit Auswirkungen auf die ganzheitlichen Aufgaben des Naturschutzes abzugleichen“, erklärt Prof. Dr. Eckhard Jedicke, Leiter des KULT und Erstautor der Studie. Er führte die Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft und Praxis bei einem Workshop zusammen.
Aus Geisenheim wirkte auch Privatdozent Dr. Karsten Mody daran mit, der im Institut für angewandte Ökologie und ehrenamtlich im Vorstand des NaturGarten e.V. arbeitet. Als weitere Universitäten und Hochschulen waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Göttingen, Tübingen, Erfurt, Bernburg, Stuttgart-Hohenheim, Halle-Wittenberg und Gießen sowie des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung Halle beteiligt. Seiten der Praxis trugen NaturGarten e.V., das Kompetenzzentrum Wildbienen in Neustadt an der Weinstraße, der NABU-Landesverband Baden-Württemberg, der Landesverband badischer Imker und der Landschaftserhaltungsverband Ostalbkreis in Aalen zu dem Papier bei.