Vereinssterben in ländlichen Regionen – Digitalisierung als Chance

Teil 1

 

Das Vereinsleben im ländlichen Raum aufrecht zu erhalten, wird durch den demografischen Wandel erschwert: Die Bevölkerung altert und Menschen wandern ab. Hinzu kommen Nachwuchsprobleme: „Gerade jüngere Menschen verbinden mit ehrenamtlichen Positionen nicht länger hohes Prestiges, binden sich auch nicht mehr lebenslang an einzelne Organisationen“, sagt Holger Krimmer, Geschäftsführer der ZiviZ im Stifterverband. So verzeichnet mittlerweile nahezu jeder vierte Verein in ländlichen Regionen erhebliche Rückgänge bei den Engagierten-Zahlen (22 Prozent), weil Engagierte fehlen oder Vereine ihre Ehrenamtlichen nicht langfristig binden können. In den Städten fällt diese Zahl mit rund 14 Prozent weitaus geringer aus. Insbesondere in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt sind Vereine in Gefahr. Gut schneidet hingegen Baden-Württemberg ab.

Diese Entwicklung gefährde den gesellschaftlichen Zusammenhalt in dünn besiedelten Landkreisen: „Schon heute können Kommunen und Staat vielerorts nicht mehr dieselben Leistungen der Daseinsvorsorge wie in der Stadt bieten und sind auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger angewiesen“, sagt Holger Krimmer. „Damit droht immer mehr Menschen, von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben abgeschnitten zu werden.“

Die Studie „Vereinssterben im ländlichen Raum – Digitalisierung als Chance“ macht deutlich, dass die verstärkte Nutzung digitaler Technologien dem Vereinssterben auf dem Land entgegenwirken kann: Cloud-Lösungen und Video-Konferenzen beispielsweise ersparen lange Wege zur Vereinsarbeit. Optimierte Arbeitsprozesse durch moderne Kommunikationswege können es erleichtern, neue Engagierte zu gewinnen. Hier seien vor allem die Kommunen, Bund und Länder, aber auch Unternehmen gefordert:

15.547 Vereine in ländlichen Regionen haben sich seit 2006 aufgelöst und wurden aus den Vereinsregistern gelöscht. Die Auflösung von Vereinen ist damit ein vorwiegend ländliches, deren Gründung ein städtisches Phänomen. Bestehende Vereine in ländlichen Regionen kämpfen besonders häufig damit, neue Engagierte zu gewinnen. Auch ihr Bestand ist damit gefährdet.

In Vereinen geht es um mehr als Geselligkeit. Vereine in ländlichen Räumen organisieren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Engagement, Gemeinsinn und Teilhabe entwickeln sich nicht von selbst, sondern sind auf ein bürgerschaftliches Leben in der Kommune angewiesen. Das Ausdünnen der Vereinsstrukturen schwächt die Voraussetzungen, die in Regionen mit alternder, abwandernder und schrumpfender Bevölkerung Lebensqualität und gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglichen.

Vereine werden besonders wichtig, wenn Kommune und Staat Leistungen der Daseinsvorsorge nicht mehr erbringen und gleichwertige Lebensbedingungen in Stadt und Land nicht mehr gewährleisten können. Bürgerbäder und -bibliotheken, Bürgerbusse und genossenschaftlich getragene Dorfläden sind längst keine Seltenheit mehr. Häufig springen Bürgerinnen und Bürger dort ein, wo Kommune und Staat sich zurückziehen.

Bürgerinnen und Bürger haben gegenüber dem Staat einen Gewährleistungsanspruch auf wohnraumnahe Versorgung mit lebenswichtigen Infrastrukturen. Dazu zählen der Zugang zu ärztlicher Versorgung, eine zu Fuß erreichbare Haltestelle des Nahverkehrs, die Nähe zu Bildungsinstitutionen und weitere Bereiche. Der demografische Wandel stellt diese Lebensbedingungen zunehmend in Frage. In ländlichen Regionen leidet so die Lebensqualität; Menschen werden abgehängt von Wohlstand, Teilhabe und gesellschaftlichem Wandel.

Die Nutzung digitaler Technologien kann einiges dazu beitragen, die Probleme zu überwinden, mit denen Vereine in ländlichen Räumen in ihrer täglichen Praxis konfrontiert sind. Digitalisierung ist gekommen, um zu bleiben. Sie verändert sämtliche Lebensbereiche. Das Vereinsleben und Engagement-Möglichkeiten sind davon nicht ausgenommen. Die Leitfrage für Vereine auf dem Land ist daher nicht, ob, sondern wie Digitalisierung für ihre Ziele genutzt und gestaltet wird. Dabei geht es schon heute in vielen Fällen nicht darum, analoges in digitales Engagement zu überführen. Vielfach ist das gemeinsame Engagement und das direkte, Zusammenhalt stärkende Wirken nur möglich, weil es digital initiiert oder – sinnvoll – ergänzt wurde.

Vereine in ländlichen Räumen müssen für die Vereinsarbeit größere Distanzen überwinden – von der Mitgliederversammlung über die Vorstandssitzung bis hin zu gemeinsamen Aktivitäten. Da immer mehr Vereine miteinander fusionieren, um gemeinsam überlebensfähig zu bleiben, erweitern sich diese Einzugsgebiete noch. Oftmals ist es daher eine große Erleichterung, wenn Mitglieder von Vereinsvorständen beispielsweise durch Videokonferenzen oder Cloudlösungen den Aufgaben ihres Ehrenamts so nachgehen können, dass lange Wege entfallen.

Das ist nur eine von vielen Möglichkeiten, wie Digitalisierung Vereinsarbeit gerade auf dem Land unterstützen kann. Technologie kann beispielsweise auch helfen, Arbeitsprozesse zu verbessern, durch neue Kommunikationswege Engagierte zu gewinnen, und die Zusammenarbeit an Formen anzupassen, die jüngere Menschen längst als selbstverständlich erleben und praktizieren. Vernetzung online muss keineswegs dazu führen, dass gemeinschaftsbildendes Engagement im Hier und Jetzt verschwindet – vielmehr kann es dessen Grundlagen stärken. Digitalisierung eröffnet außerdem potenziell auch älteren und mobilitätseingeschränkten Personen verbesserte Teilhabemöglichkeiten und kann so gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Auch das hat gerade für Vereine in alternden, schrumpfenden ländlichen Räumen viel Potenzial.

 

Die Autoren der Studie:
Patrick Gilroy, Holger Krimmer, Jana Priemer, Olga Kononykhina,
Maria Pereira Robledo, Falk Stratenwerth-Neunzig

Auftraggeber der im September 2018 veröffentlichten Studie war die Förderinitiative „digital.engagiert“ von Amazon und Stifterverband, die Vereine und gemeinnützige Organisationen bei ihren Projektideen zur Digitalisierung der Zivilgesellschaft unterstützt.
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