Klimatechnik ohne klimaschädliche Kältemittel

Die Doktoranden Felix Welsch und Susanne-Marie Kirsch haben die erste kontinuierlich laufende Maschine, die Luft mit Muskeln aus Nickel-Titan kühlen kann, am Lehrstuhl von Professor Stefan Seelecke mitentwickelt. Foto: Oliver Dietze Universität des Saarlandes

Von Kühlschrank und Klimaanlage über Kühlsystem in Computer oder Auto bis hin zu komplexer Prozesskühlung in der Industrie: Unsere Gesellschaft kommt ohne Kühlung nicht mehr aus. Mit Klimaerwärmung und wachsender Weltbevölkerung wird der Bedarf an der „Abwesenheit von Wärme“ steigen, wie die Physik das Phänomen Kälte umschreibt. Aber tiefere Temperaturen bedeuten hohen Stromverbrauch und hohe Belastung mit Treibhausgasen durch klimaschädliche Kältemittel.

Eine umweltfreundlichere Kühlmethode entwickelt das Forscherteam von Professor Stefan Seelecke an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (Zema) zusammen mit Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft.
„Unser Verfahren kommt ganz ohne klimaschädliche Kältemittel aus und hat eine signifikant hohe Energieeffizienz: Es ist weit effizienter als heute übliche Klimatechniken und bis zu fünfzehnmal effizienter als herkömmliche Kältemittel“, erklärt Stefan Seelecke. Die EU-Kommission und das Energieministerium der Vereinigten Staaten deklarierten ihr Kühlverfahren der „Elastokalorik“ als zukunftsträchtigste Alternative zu gegenwärtigen Kompressions-Kältemaschinen.

Seeleckes Team hat den weltweit ersten kontinuierlich laufenden Kühldemonstrator entwickelt, der Luft mit dem neuen Verfahren kühlt. Die Kältemaschine, die sie auf der Hannover Messe zeigen, kühlt mit „künstlichen Muskeln“, sogenannten Formgedächtnis-Drähten der Legierung Nickel-Titan, Nitinol genannt. Diese Drähte haben die besondere Eigenschaft, ihre alte Form wieder anzunehmen, wenn sie verformt oder gezogen werden: Sie spannen also ähnlich wie Muskeln an und entspannen wieder.

Der Grund hierfür liegt tief im Inneren des Metalls verborgen: Seine Atome sitzen in einem Kristallgitter. Wird der Draht verformt oder gezogen, verschieben sich die Atom-Lagen und es kommt im Gitter Spannung auf. Diese Spannungen lösen sich, wenn der Draht anschließend wieder seine alte Form annimmt. Bei diesen Vorgängen, die Forscher sprechen von Phasenumwandlungen, nehmen die Drähte Wärme auf und geben sie wieder ab.

Diesen Effekt nutzen Seelecke und sein Team bei ihrer Kühlmaschine: „Das Formgedächtnismaterial gibt Wärme ab, wenn es im sogenannten superelastischen Zustand gezogen wird, und nimmt Wärme auf, wenn es entlastet wird. Bei Nitinol ist dieser Effekt besonders stark: Wenn zuvor gespannte Drähte bei Raumtemperatur entlastet werden, kühlen sie sich um bis zu etwa 20 Grad unter dem Umgebungsniveau ab“, erläutert der Professor für Intelligente Materialsysteme.

„Wir nutzen diese Eigenschaften, um Wärme abzutransportieren“, sagt Susanne-Marie Kirsch, die die Kühlmaschine in ihrer Doktorarbeit mitentwickelt hat. „Die Grundidee ist, vorgedehnte, superelastische Formgedächtnis-Drähte in einen Raum zu bringen, wo sie sich entlasten, dabei stark abkühlen und hierbei dem Raum Wärme entziehen“, erklärt die Ingenieurin. Außerhalb des Raumes belasten die Wissenschaftler die Drähte erneut, wobei die Wärme dort an die Umgebung abgegeben wird.

In der Saarbrücker Kühlmaschine ist die Sache freilich um einiges komplizierter: In einem Kühlkreislauf sorgt ein speziell konstruierter, zum Patent angemeldeter Nockenantrieb dafür, dass während der Rotation fortwährend Bündel aus 200 Mikrometer dicken Nitinol-Drähten gezogen und entlastet werden. In zwei separaten Kammern wird Luft durch die Bündel geblasen, die in der einen Kammer erwärmt und in der anderen gekühlt wird. Dadurch kann die Maschine kühlen, aber auch heizen.

„Beim Belasten findet eine ebenso große Erwärmung von etwa 20 Grad statt, so dass der Prozess auch als Wärmepumpe eingesetzt werden kann“, erklärt Felix Welsch, der ebenfalls im Rahmen seiner Doktorarbeit am Prototyp gearbeitet hat. Je nach Legierung kann die neue Kühltechnik bis zu dreißigmal mehr Wärme- oder Kühlleistung abgeben als sie mechanische Leistung beim Ziehen und Loslassen benötigt. Damit ist das System erheblich besser als derzeitige Wärmepumpen und herkömmliche Kühlschränke.

Die Kühlmaschine ist das Ergebnis aus mehreren Jahren Forschung in verschiedenen Projekten und mehrfach ausgezeichneten Doktorarbeiten. Auch die Arbeitsgruppe von Professor Andreas Schütze von der Universität des Saarlandes war hieran beteiligt. Unter anderem förderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG die Forschung im Schwerpunktprogramm „Ferroic Cooling“.

Hierbei machten Forscherinnen und Forscher den Mechanismus immer effizienter und optimierten die einzelnen Abläufe, etwa indem sie herausfanden, wie viele Drähte sie bündeln müssen, wie stark diese idealerweise gezogen werden, um eine bestimmte Kühlleistung zu erreichen oder welche Drehzahl bei der Rotation am besten ist. Mit diesen Forschungsergebnissen können die Ingenieure ihr System nun maßschneidern. Sie haben eine Software entwickelt, mit der sie die Heiz- und Kühltechnik für verschiedene Anwendungen am Computer anpassen und Kühlsysteme simulieren und planen können.

Derzeit arbeiten die Saarbrücker Ingenieurinnen und Ingenieure in mehreren Projekten daran, die Wärmeübertragung der Maschine weiter zu optimieren, um ihre Effizienz noch weiter zu steigern: Die gesamte Energie aus den Phasenumwandlungen soll ohne Verluste vollständig dem Kühlen oder Heizen zugutekommen.

Neuestes Ziel der  Wissenschaftler in Seeleckes Team ist es, ihre elastokalorische Technologie für die Kühlung in Elektrofahrzeugen weiterzuentwickeln. Hierzu arbeiten sie seit Januar 2022 mit Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft zusammen in einem vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Verbundprojekt namens „NEKKA – Entwicklung eines neuartigen elastokalorischen Klimasystems“, das einen Gesamtumfang von sechs Millionen Euro hat. Ihr Teilvorhaben wird mit rund einer Million Euro gefördert. „Ziel ist es, ein alternatives Klimatisierungssystem für Fahrzeuge aller Fahrzeugklassen zu entwickeln, zu simulieren und zu validieren: Es soll kontinuierlich Wärme und Kälte zur Verfügung stellen und zugleich effizienter, umweltverträglicher und nachhaltiger als bisherige Verfahren sein. Außerdem soll unsere Technik im Vergleich kleiner, leichter und kostengünstiger sein“, erläutert Ingenieur Paul Motzki, Forscher in Seeleckes Team.