Ob und wie ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland die Arbeitsmarktintegration gelingt, hängt nicht nur von einem gesicherten Aufenthaltsrecht und Arbeitsmarktzugang ab – diese Voraussetzungen wurden mit der kollektiven Anerkennung und weiteren Regelungen geschaffen. Um prekäre Arbeitsverhältnisse zu verhindern, müssen individuelle und strukturelle Risikofaktoren berücksichtigt und abgemildert werden, so der wissenschaftliche Stab des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) zu Ergebnissen aus einem aktuellen Forschungsprojekt.
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde untersucht, welche rechtlichen und strukturellen Teilhabebeschränkungen zu prekären Arbeitsverhältnissen führen können und was dies für eine erfolgreiche Integration ukrainischer Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt bedeutet. Die Voraussetzungen sind grundsätzlich gut: Durch die Aktivierung der sog. EU-Massenzustrom-Richtlinie wurden ukrainische Flüchtlinge kollektiv anerkannt; sie haben ein Aufenthaltsrecht und eine Arbeitserlaubnis.
Zugleich wurden sie in Deutschland dem Rechtskreis des Sozialgesetzbuchs zugeordnet; dadurch wurden zentrale rechtliche Teilhabebeschränkungen abgebaut.
„Bei den nach Deutschland geflohenen Menschen aus der Ukraine handelt es sich außerdem überwiegend um gut ausgebildete Arbeitskräfte. Zusammen mit den geschaffenen rechtlichen Rahmenbedingungen trägt das dazu bei, dass ihr Risiko, in ein prekäres Arbeitsverhältnis zu kommen, deutlich geringer ist – ganz ausgeschlossen ist es aber nicht“, sagt Dr. Holger Kolb, Leiter des Forschungsprojekts.
Besonders wichtig sei deshalb, wie die Regelungen behördlich umgesetzt würden. „Es handelt sich hier um administratives Neuland. Es fehlen Informationen und Routinen. Konkret geht es deshalb darum, wie schnell und reibungsarm Leistungsauszahlung, Weiterbildung und Arbeitsvermittlung im Falle der Flüchtlinge erfolgen, wie gut sie ineinandergreifen und ob dabei individuelle Faktoren berücksichtigt werden können. Es geht um Fragen der Kinderbetreuung, des Spracherwerbs, der Beratung zu sozial- und arbeitsrechtlichen Themen und der zügigen Anerkennung von Qualifikationen“, erläutert Dr. Kolb.
Als Vergleichsgruppe für die Arbeitsmarktintegration wurden ukrainische Staatsangehörige betrachtet, die insbesondere seit dem Wegfall der Visumpflicht im Jahr 2017 vermehrt im deutschen Niedriglohnsektor beschäftigt sind. „Diese Menschen arbeiten überwiegend im juristischen Nischen- und Graubereich des deutschen Arbeitsmarkts, was mit erheblichen rechtlichen und strukturellen Teilhabebeschränkungen verbunden ist“, berichtet Dr. Franziska Loschert, wissenschaftliche Projektmitarbeiterin.
Die Auswertung qualitativer Interviews von Fachleuten ergab, dass vor allem solche ukrainischen Betreuungskräfte gefährdet sind, die über private Vermittlungsagenturen mit polnischen Dienstleistungsverträgen in deutschen Privathaushalten arbeiten. „In der Branche wird diese Vereinbarung ‚Müllvertrag‘ genannt: Die Beschäftigten haben häufig keinen Anspruch auf Urlaub oder Krankengeld, sie sind sofort kündbar und es werden keine oder nur geringe Sozialversicherungsbeiträge für sie gezahlt. Das bedroht auch langfristig ihre finanzielle Sicherheit und soziale Teilhabe. Besonders problematisch ist, dass sie meist unangemeldet in Deutschland arbeiten; das macht sie wehrlos gegen Arbeitsrechtsverstöße und ebnet den Weg in die Prekarität“, so Dr. Loschert.
Ukrainische Flüchtlinge haben hier aufgrund des ihnen von der EU zuerkannten Kollektivschutzes eine weitaus bessere Ausgangsposition. „Ein gesicherter Aufenthaltsstatus wie hier über § 24 Aufenthaltsgesetz kann grundsätzlich das Risiko mindern, in prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse zu rutschen“, fasst Franziska Schork, wissenschaftliche Projektmitarbeiterin, die Forschungsergebnisse zusammen. Für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt müssten aber noch weitere Faktoren berücksichtigt werden. So bilden Flüchtlinge generell eine besonders vulnerable Gruppe. „
Viele haben traumatische Erfahrungen gemacht, nahestehende Menschen und Besitz zurückgelassen oder gar verloren. Ein Großteil der Flüchtlinge aus der Ukraine sind Frauen – viele von ihnen haben Kinder, für die sie verlässliche und erreichbare Betreuungsangebote brauchen. Auch eine individuelle und gen-dersensible Beratung ist wichtig, um auf Berufswünsche und -fähigkeiten der Frauen eingehen zu können“, ergänzt Schork.
In Bezug auf die Arbeitsmarktintegration sind verschiedene Szenarien denkbar. „Im besten Fall gelingt den Flüchtlingen nicht nur eine schnelle, sondern auch eine ihren individuellen Qualifikationen angemessene Integration in den Arbeitsmarkt. Voraussetzung dafür ist vor allem die schnelle Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Dies wäre auch angesichts des akuten Fachkräftemangels das beste Szenario,“ erläutert Projektleiter Dr. Holger Kolb. Bei einer Beschäftigung unterhalb ihrer Qualifikation könnten Flüchtlinge dagegen schnell in eine Dequalifizierungsspirale geraten.
„Das Risiko erhöht sich, wenn sie unter dem Druck stehen, möglichst schnell eine Beschäftigung aufzunehmen, etwa weil sich Leistungsauszahlungen verzögern, die Anerkennung von Qualifikationen nicht beantragt wird oder sehr viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nimmt, wenn Sprachkenntnisse unzureichend sind oder Beratungsangebote fehlen. Als Folge können sich prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen verfestigen“, so Dr. Kolb.
Das von der Mercator Stiftung geförderte Forschungsprojekt „Prekäre Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften und Perspektiven für ihre Teilhabe in Deutschland“ des wissenschaftlichen Stabs des SVR untersucht die Teilhabehürden und Teilhabechancen von zugewanderten Arbeitskräften aus EU- und Drittstaaten im Niedriglohnsektor systematisch und soll Wege aufzeigen, wie Teilhabehürden überwunden werden können. Das Projekt läuft bis September 2023.