Seegräser haben sich aus Süßwasserpflanzen entwickelt, nutzen Sonnenlicht und Kohlendioxid (CO2) für die Photosynthese und gedeihen in Tiefen bis zu 50 Metern. Im Gegensatz zu Algen verfügen sie über Wurzeln und Rhizome, die in sandigen oder schlammigen Sedimenten wachsen. Die grasartigen Blattsprosse bilden Blüten und vollenden ihren Lebenszyklus vollständig unter Wasser. Die Samen sind zwar nicht schwimmfähig, werden aber von den samentragenden Trieben getragen, was die Ausbreitungsdistanzen im ozeanischen Maßstab erheblich vergrößert.
Als ökosystembildende Art bietet Seegras einen wichtigen Lebensraum für verschiedene Biotope im Flachwasser und erbringt zahlreiche Ökosystemleistungen. Weil es auch Kohlenstoff bindet, wird Seegras zunehmend als einer der wichtigsten Beiträge der Natur zur Kohlenstoffspeicherung im Meer geschätzt. Das Sediment unterhalb von Seegraswiesen kann jährlich zwischen 30 und 50 Mal mehr Kohlenstoff speichern als die Wurzeln von Wäldern an Land. Der weltweit anhaltende Verlust von Seegraswiesen gibt daher Anlass zur Sorge.
Eine internationale Gruppe von Forschenden unter der Leitung von Professor Dr. Thorsten Reusch, Leiter des Forschungsbereichs Marine Ökologie am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, konnte anhand der vollständigen Genome von Zellkernen und Chloroplasten von 200 Individuen und 16 Standorten die Besiedlungsgeschichte des Seegrases Zostera marina von dessen Ursprung im nordwestlichen Pazifik über den Pazifik und Atlantik bis zum Mittelmeer rekonstruieren und datieren.
Mithilfe eines phylogenomischen Ansatzes stellen die Wissenschaftler fest, dass Seegraspflanzen den Pazifik zunächst in mindestens zwei Kolonisierungs-Ereignissen von West nach Ost überquert haben, wahrscheinlich unterstützt durch den Nordpazifikstrom. Anschließend wendeten die Wissenschaftler zwei „molekulare Uhren“ an – eine auf der Grundlage des Kerngenoms und eine auf der Grundlage des Chloroplastengenoms – um den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem sich die Seegraspopulationen in neue Populationen verzweigten. Die DNA-Mutationsrate wurde berechnet und mit einer älteren vollständigen Genomverdopplung verglichen, die bei Seegras auftrat.
Sowohl das Kern- als auch das Chloroplastengenom zeigten, dass sich das Seegras vor etwa 243.000 Jahren über die kanadische Arktis in den Atlantik ausbreitete. Die Ankunft liegt damit weitaus kürzer zurück als erwartet – Tausende anstatt Millionen von Jahren, wie es bei den meisten atlantischen eingewanderten Arten während des Großen Arktischen Austauschs vor etwa 3,5 Millionen Jahren der Fall war. „Wir müssen daher davon ausgehen, dass es vor dieser Zeit keine Seegras-Ökosysteme – Hotspots der Biodiversität und Kohlenstoffspeicherung – im Atlantik gab“, erklärt Professor Dr. Reusch.
„Die erst kürzlich erfolgte Ausbreitung spiegelt sich auch in der Analyse der zugehörigen Lebensgemeinschaft wider, die im Atlantik viel weniger spezialisierte Tiere aufweist als in den pazifischen Seegraswiesen. Das deutet darauf hin, dass für die Ko-Evolution von Tieren und Pflanzen weniger Zeit zur Verfügung stand.“
Die Populationen im Mittelmeer wurden vor etwa 44.000 Jahren vom Atlantik aus gegründet und überlebten das letzte glaziale Maximum. Die heutigen Populationen an der West- und Ostküste des Atlantiks haben sich dagegen erst nach dem Höhepunkt der letzten Eiszeit vor etwa 19.000 Jahren, aus Refugien (wieder) ausgebreitet – und zwar hauptsächlich von der amerikanischen Ostküste aus mit Hilfe des Golfstroms.
Darüber hinaus bestätigten die Forschenden den großen Unterschied in der genomischen Vielfalt zwischen Pazifik und Atlantik, einschließlich einer Abnahme entlang der Breitengrade bei nördlichen Populationen. „Sowohl die atlantischen als auch die pazifischen Populationen sowie die nördlichen und südlichen Populationen sind auf genetischer Ebene weniger vielfältig als ihre Vorfahren – und zwar um den Faktor 35 zwischen der vielfältigsten und der am wenigsten vielfältigen Population“, fasst Dr. Lei Yu zusammen, Erstautor der Veröffentlichung, die ein Kapitel seiner Doktorarbeit ist.
„Dies ist auf Engpässe zurückzuführen, die durch vergangene Eiszeiten entstanden, was Anlass zur Frage gibt, wie gut sich das Atlantische Seegras aufgrund seiner genetischen Kapazität an den Klimawandel und andere Umweltstressoren anpassen kann.“
„Die Erwärmung der Ozeane hat bereits zu Verlusten an den südlichen Grenzen des Verbreitungsgebiets geführt, insbesondere in North Carolina und Südportugal. Außerdem haben Hitzewellen das Seegras in flachen Gewässern in einigen nördlichen Teilen des Verbreitungsgebiets dezimiert“, so Professor Dr. Reusch.
„Das ist keine gute Nachricht, weil Seegraswiesen vielfältige und produktive Ökosysteme bilden, und keine andere Art die Rolle des Seegrases übernehmen kann, wenn die Wiesen unter den künftigen Umweltbedingungen nicht überleben.“
„Eine Möglichkeit zur Wiederherstellung könnte darin bestehen, genetische Vielfalt vom pazifischen Seegras zu übernehmen, um diejenige im Atlantik zu stärken“, sagt Professorin Dr. Jeanine Olsen. Die emeritierte Professorin der Universität Groningen hat die Studie initiiert und die Arbeit zwischen dem Joint Genome Institute (JGI) und dem Forschungsteam koordiniert. „Unser nächster Schritt besteht darin, das Seegras-Pangenom zu untersuchen. Ein neues Referenzgenom des pazifischen Seegrases wird derzeit entwickelt. Es sollte uns mehr über die ökotypische Anpassungsfähigkeit in den verschiedenen Lebensräumen weltweit verraten.“ Das Urteil über die schnelle Anpassung steht also noch aus, aber es gibt Grund zum Optimismus.