Der Student ist nicht zu überhören: „Jetzt wollen sie uns auch noch das Fleisch verbieten“, ruft er mit gespieltem Entsetzen in der Cafeteria der Hochschule Bielefeld (HSBI). Michelle Metzinger und ihre Mitstudierenden Svenja Kulbrock und Luca Schellin wollen jedoch genau das nicht. Im Gegenteil: „Wir haben untersucht, ob sich das Konsumverhalten der Gäste so beeinflussen lässt, dass sie eine Entscheidung für mehr Nachhaltigkeit treffen und das klima- und tierfreundlichere vegetarische Menü wählen. Ohne Verbote, nur mit einem sanften Anstoß“, erläutert die 21-Jährige und weist an der Essensausgabe der Cafeteria auf einen kleinen Aufsteller mit der Frage: „Na, wie sieht Dein Teller heute aus?“
Die drei Feldforschenden studieren im 5. Semester im Bachelorstudiengang Wirtschaftspsychologie, in dem der Blick auf die Menschen in wirtschaftlichen Kontexten gerichtet ist, auf Mitarbeitende und Führungskräfte genauso wie auf Konsumierende, Kundinnen und Kunden. „Die Wirtschaftspsychologie versucht zu verstehen, wie individuelle, situative, soziale und kulturelle Faktoren das Verhalten und Handeln der Menschen in wirtschaftlichen Zusammenhängen beeinflussen“, erklärt Prof. Dr. Manuel Stegemann, zuständig für das Lehrgebiet Markt- und Werbepsychologie und Marketing im Fachbereich Wirtschaft der HSBI. „Die Erkenntnisse können dann beispielsweise im Personalwesen oder im Marketing eingesetzt werden.“
Vegetarisch oder mit Fleisch?
Den Marketing-Einsatz haben die drei Studierenden jetzt in ihrem Feldversuch getestet. Nicht klassisch für ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung, sondern: „Wir wollten nachhaltiges Konsumverhalten fördern“, sagt Svenja Kulbrock. „Nachhaltigkeit spielt in unserem Leben und ganz allgemein eine große Rolle, das sollte weiter forciert werden.“ Zum Beispiel in der Ernährung. „Inzwischen weiß man, dass vegetarische Gerichte deutlich nachhaltiger sind als Fleischgerichte. Man verbraucht weniger CO2, muss keine Tiere schlachten, und gesünder ist es auch“, fasst Michelle Metzinger die Vorteile einer fleischlosen Ernährung zusammen.
Die Studierenden recherchierten genauer: Rund 52 Kilogramm Fleisch wird in Deutschland pro Kopf und Jahr im Durchschnitt verbraucht, alle fleischlos Essenden eingerechnet. Folgt man der Empfehlung des Bundesgesundheitsamtes, dürften es maximal 31 Kilogramm sein. „Die Zahlen sind erschreckend“, findet Metzinger. Damit hatten die Studierenden ihr Thema gefunden.
Sanftes “Nudging“ statt Verboten
Ein Thema mit Sprengkraft, weiß Manuel Stegemann, der das Projekt betreut: „Ernährung betrifft jeden und ist ein hochroutiniertes Verhalten mit lange eingeübten Gewohnheiten. Diese Routinen geben auch Sicherheit. Wenn sie verändert werden oder werden sollen, können Menschen sehr emotional reagieren und sich dagegen wehren. Reaktanz nennen wir ein solches Verhalten.“ Ein Grund für die Studierenden, es bei ihrem Versuch auf die sanfte Art zu probieren und auf die Methode des „Nudging“ zu setzen.
„Damit ist das ‚Anstupsen‘ von Verhalten bzw. Entscheidungen mit eher sanften Mitteln gemeint, wie beispielsweise die Kommunikation über Textbotschaften oder Bilder. Die Wahlfreiheit bleibt dabei erhalten“, erklärt Stegemann. „Härtere Möglichkeiten als Nudging wären beispielsweise Verbote oder ökonomische Anreize.“
Mit der Cafeteria im HSBI-Hauptgebäude war schnell das geeignete Feld für den Versuch gefunden. Die Studierenden holten sich Rückendeckung vom Studierendenwerk und von Prof. Dr. Natalie Bartholomäus, Vizepräsidentin für Nachhaltigkeit und strategisches Human Resource Management der HSBI, denn Nachhaltigkeit ist eines der strategischen Querschnittsthemen der Hochschule.
Der soziale Einfluss auf das Entscheidungsverhalten
Dann konzipierte das Forschungs-Trio das experimentelle Design. „Uns interessierte vor allem der soziale Einfluss auf das Entscheidungsverhalten“, sagt Luca Schellin. Machen die Gäste das, was viele andere auch machen und was sie deshalb für angemessen halten und nicht weiter hinterfragen? „‚Social Proof‘ nennen wir dieses Phänomen“, erklärt Stegemann.
„Es bedeutet, dass Menschen dazu tendieren, das Verhalten oder die Meinungen anderer als Hinweis oder Beweis für die Richtigkeit oder Angemessenheit einer Handlung anzusehen. Es beruht auf der Annahme, dass das Verhalten oder die Entscheidungen anderer Menschen eine wertvolle Informationsquelle darstellen, insbesondere in Situationen, in denen wir uns unsicher oder unentschlossen fühlen.“
Oder richten sie ihr Verhalten danach aus, ob sie den Eindruck erhalten, gemeinsam mit anderen etwas bewirken zu können? „Das wird mit ‚Kollektiver Wirksamkeit‘ umschrieben“, so Stegemann. Diese beiden „Hebel“ verpackten die Studierenden in ihre Textbotschaften und verkündeten zur Messung von Social Proof:
„Deutschland isst mehr vegetarisch: 2021 gab es in Deutschland doppelt so viele Vegetarierinnen und Vegetarier wie noch im Jahr zuvor!“
Um herauszukriegen, welchen Einfluss das Phänomen „Kollektive Wirksamkeit“ hat, wiesen sie darauf hin, wie viele Rinder, Schweine und Hühner „gerettet“ werden können, wenn alle Hochschulangehörigen auf Fleisch verzichten würden. Und schließlich formulierten sie noch eine Kombination aus beiden.
Lahmacun vegetarisch oder mit Fleisch?
An mehreren Tagen wurde die Cafeteria nun präpariert, mit jeweils einer der Textbotschaften auf Plakaten und Aufstellern, gut sichtbar platziert an Säulen und auf Bedientheken. Svenja Kulbrock, Michelle Metzinger und Luca Schellin nahmen Platz und schauten den Gästen unauffällig auf die Teller: Hatten sie sich für den vegetarischen oder fleischhaltigen Lahmacun entschieden? „Zum Vergleich haben wir an einem Tag auch ohne diese Intervention Daten erhoben“, sagt Schellin. Das Ergebnis der software-gestützten Auswertung:
„Die Text-Variante mit dem Hinweis auf die ,Kollektive Wirksamkeit‘ zeigte einen signifikanten Effekt auf die Wahl des vegetarischen Gerichts. Allerdings war die Effektstärke eher moderat“, so Metzinger. „Plakate können also etwas bewirken, aber natürlich nur begrenzt.“
Dafür waren andere Effekte in Einzelfällen umso heftiger: „Manche Personen zeigten sehr deutlich Reaktanz“, erzählt Kulbrock. Wie der rufende Student. Und ein anderer Gast verwahrte sich per Mail aufs Schärfste gegen etwaige Interventionen in seine Essens-Wahl, weil er die Hochschulleitung im Verdacht hatte, ihm entsprechende Vorschriften machen zu wollen. Viel häufiger erhielt die Gruppe aber positive Rückmeldungen:
„Wir wurden bestärkt in unserem Engagement für vegetarisches Essen, viele wünschten sich weitergehende Aktionen und machten Vorschläge für eine Erweiterung des vegetarischen und vor allem veganen Angebots.“ Mit ihrem Versuch hatten die Studierenden also durchaus einen Nerv getroffen.