Um Netto-Null zu erreichen, müssen wir unsere CO₂-Emissionen rasch und effizient senken. Ein EU-Projekt mit Beteiligung der Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) hat Zürich als eine von drei Pilotstädten in Europa ausgewählt, um deren Kohlendioxid-Ausstoß genau zu messen und zu modellieren. Die Erkenntnisse helfen Städten bei der Erreichung ihrer Klimaziele.
Rund 70% aller anthropogenen Emissionen entstehen in, um und durch Städte. Zugleich haben sie einen großen Handlungsspielraum, diese Emissionen zu reduzieren. Viele urbane Gebiete haben ambitioniertere Klimaziele als ihre Länder – so auch die Stadt Zürich, die bereits bis 2040 Netto-Null erreichen will.
«ICOS Cities»: Wieviel CO₂ setzt Zürich frei?
Um Treibhausgasemissionen in so kurzer Zeit zu reduzieren, braucht es verlässliche Daten. Sie zeigen den Fortschritt, widerspiegeln die Wirksamkeit der Massnahmen, und schaffen Anreize, indem sie die Emissionen sicht- und greifbarer machen. «Es gibt keine Diät, die ohne eine Waage erfolgreich ist», resümiert Lukas Emmenegger, Leiter des Empa-Labors «Luftfremdstoffe / Umwelttechnik».
Doch wie kann man die Emissionen einer ganzen Stadt messen?
Mit dieser Frage beschäftigt sich das EU-Projekt «ICOS Cities», bei dem Zürich als eine der drei Pilotstädte dabei ist, gemeinsam mit Paris und München. Im Rahmen von «ICOS Cities» wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemeinsam mit Stadtverwaltungen Methoden zur Messung und Modellierung der Emissionen in Städten entwickeln. Dass Zürich eine der drei «auserwählten» Städte ist, kommt nicht von ungefähr.
«Die Stadt besitzt bereits hochwertige Daten zu ihren Emissionen, hat einen ‹digitalen Zwilling› und geht sehr offen mit diesen Ressourcen um», erklärt Emmenegger. Aber auch die Empa hat dazu beigetragen: «Beim Start von ‹ICOS Cities› hatten wir bereits ein CO2-Messnetz in der ganzen Schweiz, auch in Zürich», sagt Empa-Forscher Dominik Brunner.
Emissionen messen…
Im Rahmen von «ICOS Cities» haben die Empa-Forschenden dieses Netzwerk auf 60 Standorte in der ganzen Stadt ausgeweitet. Die günstigen, kleinen Messgeräte hängen unauffällig an Strassenlaternen und Bäumen von Uetliberg bis Irchel. Ergänzt wird dieses «low-cost»-Sensornetz durch ein «mid-cost»-Netz. In Zusammenarbeit mit der Swisscom konnten die Empa-Forschenden rund 20 komplexere Instrumente bei Mobilfunkantennen in der Stadt anbringen. Ein Messturm auf dem Dach eines Hochhauses in der Hardau rundet die Palette ab. Dort wurden unter der Leitung der Universität Basel zeitweise hochpräzise Messungen durchgeführt, um weitere Treibhausgase wie Methan und Lachgas zu erfassen und die komplexen CO₂-Flüsse über der Stadt zu verstehen.
Denn punktuelle Messungen der CO₂-Konzentration sagen noch nicht viel über die Emissionen aus. Die komplexe Topografie der Stadt, insbesondere diejenige Zürichs, schafft schwer vorhersagbare Luftströmungen, die das Treibausgas rasch von seiner Entstehungsquelle wegtransportieren können. «Eine weitere Herausforderung ist, die anthropogenen Emissionen vom natürlichen CO₂-Kreislauf in der Atmosphäre zu unterscheiden», sagt Brunner. Die grossen Wälder rund um die Stadt «atmen» jeden Tag grosse Mengen Kohlendioxid ein und aus. Die Universität Basel misst und untersucht auch diese natürlichen Fluktuationen durch Pflanzen.
… und verstehen
Diese und alle weiteren Daten aus dem Projekt – und es sind nicht wenige – lassen die Empa-Forschenden in ihre Modelle einfließen. Modellierung ist der letzte und wichtigste Schritt, um die Emissionen der Stadt zu verstehen. Wo entsteht das gemessene CO₂? Welchen Einfluss hat das Wetter auf die Konzentrationen? Welcher Teil ist natürlich und welcher anthropogen?
Antworten auf diese Fragen sucht das Team rund um Modellier-Experte Brunner gemeinsam mit Partnern im Ausland. Dazu entwickeln sie zwei Modelle: Eines zeigt auf etwa einen Kilometer genau, wie die Stadt Kohlendioxid freisetzt. Das zweite Modell «sieht» sogar einzelne Gebäude. «Diese Modelle gleichen wir mit den Emissionsschätzungen der Stadt ab, dem sogenannten CO₂-Inventar», erklärt Brunner.
Die Arbeit, vor allem am komplexen hochauflösenden Modell, ist noch nicht ganz getan. Aber die Ergebnisse sind vielversprechend. Für den Winter 2022/23 konnten die Forschenden beispielsweise eine spürbare Reduktion messen und modellieren: Die Stadt hatte damals ihren Energieverbrauch aufgrund der Energiekrise merklich reduziert. Die Modelle funktionieren.
Ein «Kochbuch» für die Nachhaltigkeit
Diese Modellierkompetenz ist ein weiterer Grund, warum ausgerechnet Zürich zur Pilotstadt wurde. «Die Empa ist eines der wenigen Institute weltweit, das sowohl Messungen als auch Modellierungen unter einem Dach vereint», sagt Emmenegger. Als Gründungspartner des Nationalen Beobachtungsnetzes für Luftfremdstoffe (NABEL), das seit 1979 in Betrieb ist, blickt die Empa auf eine lange «Karriere» bei der Bestimmung von (Spuren-)Gasen in der Luft zurück.
Standen in den 1970er-Jahren ausschließlich Schadstoffe im Fokus, so beschäftigen heute auch Kohlendioxid und andere Treibhausgase die Forschenden. Indem sie in «ICOS Cities» unterschiedliche Messmethoden und Modelle entwickeln und miteinander vergleichen, wollen sie eine Art Kochbuch für Zürich und andere Städte entwickeln, mit unterschiedlichen Rezepturen zur Überwachung ihrer CO₂-Emissionen.
Das Projekt läuft noch bis 2025. Danach sind die Städte an der Reihe: Was sie mit den «Rezepten» aus dem Projekt kochen, ist ihnen überlassen. «Die Stadt Zürich ist ein wichtiger und engagierter Partner im Projekt», sagt Emmenegger. «Wir hoffen, unsere Erkenntnisse helfen ihr bei der Erreichung ihrer Klimaziele.»
Stichwort ICOS: Das «Integrated Carbon Observation System» (ICOS) ist eine europäische Forschungsinfrastruktur, die den globalen Kohlenstoffkreislauf und dessen Beeinflussung durch menschliche Aktivitäten untersucht. Aktuell sammelt ICOS standardisierte, frei zugängliche Daten von mehr als 180 Messstationen in 16 Ländern.