
Reifenabrieb enthält eine komplexe Mischung verschiedener Verbindungen, darunter giftige Substanzen. Gelangen die Reifenpartikel in Gewässer, werden die Schadstoffe dort ausgelaugt. Ein neuer Übersichtsartikel im Journal of Environmental Management mit Beteiligung des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) fasst den aktuellen Wissensstand über das Vorkommen von Reifenabrieb und die Freisetzung von Schadstoffen in aquatischen Ökosystemen zusammen. Die Forscherinnen und Forscher warnen vor der giftigen Wirkung auf aquatische Organismen und den damit verbundenen ökologischen Folgen.
Reifenabrieb gelangt vor allem durch Wind und Regen in Flüsse und Seen. Diese Partikel machen 50 bis 90 Prozent des gesamten Mikroplastiks aus, das bei Regen von den Straßen abfließt. Wissenschaftliche Hochrechnungen deuten außerdem darauf hin, dass fast die Hälfte (45 %) des in Böden und Gewässern gefundenen Mikroplastiks von Reifenabrieb stammt. Die Konzentration von Reifenabrieb in einem Gewässer kann um mehrere Größenordnungen variieren und liegt zwischen 0,00001 bis 10.000 Milligramm pro Liter.
In diesem Artikel im Journal of Environmental Management analysieren die Autoren bestehende Studien über die Auswirkungen von Reifenabrieb auf Wasserorganismen und geben einen Überblick über die möglichen ökologischen Folgen. „Das Problem beim Reifenabrieb sind nicht nur die Partikel selbst, die lange in der Umwelt verbleiben und sich wie anderes Mikroplastik verhalten, sondern auch die Auswaschung von giftigen Zusatzstoffen“, sagt Prof. Hans-Peter Grossart, IGB-Forscher und Mitautor der Übersichtsstudie.
Von den mehr als 2.400 Chemikalien werden mindestens 140 Zusatzstoffe ausgelaugt:
Denn Autoreifen bestehen nicht nur aus Kautschuk: Tatsächlich finden sich in Reifengummi 2.456 chemische Verbindungen, von denen mindestens 144 in den Auslaugungen vorkommen. Darunter sind organische Schadstoffe wie Hexa(methoxymethyl)melamin, Dibutylphthalat und N-(1,3-Dimethylbutyl)-N′-phenyl-p-phenylendiamin (6-PDD), 6-PDD sowie 6-PDD-Chinon. Außerdem Schwermetalle wie Zink und Mangan in beträchtlichen Mengen, Cadmium und Blei. Diese Stoffe dienen zum Ozonschutz, als Antioxidationsmittel oder Weichmacher, Chemikalien für die Vulkanisation sowie Verstärkungs- und Füllmaterialien. „Beim Auslaugungsprozess setzt Reifenabrieb mehr Chemikalien frei als Thermoplastik wie PE. Und wir gehen auch davon aus, dass noch mehr Stoffe ausgelaugt werden, als bisher bekannt“, sagt Hans-Peter Grossart.
Schäden für Individuen und Ökosysteme:
Die Partikel und ihre Auslaugungen können im Körper die Bildung von freien Radikalen (oxidativer Stress) fördern, Erbgutveränderungen verursachen und die Immunreaktion verändern. Auf Ebene des Organismus beeinträchtigen sie das Fressverhalten, die Fortpflanzung und das Überleben.
Die Studie beleuchtet auch die umfassenderen Folgen für die Struktur und Funktion von Ökosystemen, um die Lücke zwischen toxikologischen Reaktionen bei Lebewesen und den Prozessen auf Ökosystemebene zu schließen: Auf Ökosystemebene verursachen die Partikel Verschiebungen in der Artenzusammensetzung, verringern die aquatische Biodiversität und verändern das Nahrungsnetz. Dadurch beeinflussen sie den Kohlenstoff- und Stickstoffkreislauf erheblich und verändern somit essentielle Prozesse wie die Bildung von Biomasse oder die Verfügbarkeit von Nährstoffen.
Häufig finden Giftigkeitsstudien unter Laborbedingungen statt und lassen sich nur bedingt auf natürliche Ökosysteme übertragen: Einerseits sind die Interaktionen in der Natur zwischen unbelebter Materie und Lebewesen komplexer und andererseits werden im Laborexperiment meist höhere Konzentrationen gewählt als tatsächlich in der Umwelt relevant sind. Dennoch empfehlen die Autor*innen, die Gefahren von Reifenabrieb ernst zu nehmen.
Hans-Peter Grossart ergänzt: „Auch werden globale Umweltveränderungen wie Erwärmung und Versauerung die Auswirkungen von Reifenabrieb und seinen Auslaugungen noch verschärfen, indem sie ihre Toxizität sowie ihre interaktiven Auswirkungen auf die mikrobielle Aktivität, den Nährstoffkreislauf und die Widerstandsfähigkeit von Ökosystemen verändern.“
Einträge von Reifenabrieb in Naturräume mindern:
Mehrere Studien haben sich damit befasst, wie Reifenabrieb in der Umwelt verbreitet wird. Zwar wird er auch durch Wind weitertransportiert, meist reichert er sich jedoch in unmittelbarer Nähe seiner Entstehung an, insbesondere in Sedimenten und Wassereinzugsgebieten, die an Verschmutzungsschwerpunkten wie stark befahrenen Straßen angrenzen. Forschende schätzen, dass nur etwa zwei Prozent aller Abriebpartikel von Flüssen bis in die Küstengebiete gelangen.
„Dass diese Partikel weitgehend lokal verbleiben, bietet Potenzial für eine bessere Prävention“, erklärt Hans-Peter Grossart. „Wirksame Minderungsstrategien betreffen natürlich die Entwicklung alternativer Reifenherstellungen. Aber auch die bessere Abgrenzung von Straßen und Abwässern gegenüber Naturräumen. Und letztlich kann jeder Mensch mit einem umsichtigen Fahrstil einen Beitrag leisten“, sagt er.