Kaum ein Gegenstand steht so sehr für das Ideal des in Einklang mit der Natur lebenden Menschen wie der Schäferkarren. In Lyrik und Malerei der Renaissance und des Barock als Rückzugsort in einer hektischen und unsteten Welt gefeiert, werden die ca. 3,5 Quadratmeter großen Wagen heute als Urlaubsdomizile vermietet. Das Deutsche Landwirtschaftsmuseum der Universität Hohenheim in Stuttgart stellt neben Modellbauten auch einen Original-Schäferkarren aus. Obwohl der Wagen erst um die Jahrhundertwende herum gebaut wurde, spiegelt er wichtige Entwicklungsschritte der Schäferei wider.
Ein warmer Frühlingstag. Der Himmel ist blau, die Blumen blühen und Schafe grasen auf der Weide. Lämmer laufen ihren Müttern hinterher, die Tiere kauen und geben Laute von sich, scheinen sich fast schon zu unterhalten. Es ist der Inbegriff der Idylle. Ein Hütehund bewacht die Herde, schützt die Schafe davor, abzuwandern oder von ihrer Herde getrennt zu werden und womöglich sogar einem Wolf zum Opfer zu fallen. Inmitten dieser Idylle findet sich ein kleiner Wagen aus Holz, gerade mal 1,80 m lang. Dieser unauffällige, leicht zu übersehende Anhänger hat für den Schäfer eine besondere Bedeutung: Er ist sein Rückzugsort bei Sturm, seine Schlafstätte, seine Vorratskammer, seine Küche und für viele einsame Nächte sein Zuhause. Während die Schafe weiden und der Hund seine Arbeit macht, kann sich der Schäfer hier zurückziehen und ausruhen.
Komfort versus Zweckmäßigkeit
Bei einer Grundfläche von ca. 3,5 Quadratmetern bietet der Karren kaum Platz für das Nötigste: Ein Bett, ein kleiner Schrank für Vorräte, ein Ofen, vielleicht ein kleiner Tisch mit einer Waschschüssel. Da der Karren mit Herde und Schäfer weiterzieht, spielt Komfort eine untergeordnete Rolle. „Oft dekorierten die Schäfer ihre Wagen, um sich zumindest ein bisschen zuhause zu fühlen“, so Frank Emmerich vom Deutschen Landwirtschaftsmuseum in Stuttgart-Hohenheim. Im Hohenheimer Wagen beispielsweise hängen Bilder und sogar eine kleine Blumenvase an den Wänden. „Aber genug Platz für weitere Möbel oder ähnliches gibt es nicht.“
Der Beginn der Pferchwirtschaft
Erst eine Umbruchsphase in der Landwirtschaft machte den Schäferkarren notwendig: „Die Bevölkerung Mitteleuropas – auch Baden-Württembergs – wuchs im Mittelalter stark an“, erklärt Emmerich, „Da der Getreideanbau ertragreicher war als die Viehwirtschaft, ging die Tierhaltung zurück.“ Ein nachteiliger Nebeneffekt davon war, dass mit den Tieren auch der Dünger – der wiederum für die Kornfelder gebraucht wurde – weniger wurde. „Aus diesem Problem heraus entstand die Pferchschäferei.“
Als Pferch bezeichnet man ein durch tragbare Zäune abgegrenztes Weidestück. Auf einem solchen lässt man die Schafe einen Tag lang grasen. Sie fressen das Gras und düngen gleichzeitig die Erde. Am nächsten Morgen muss die Erde nur noch umgegraben werden, um den Dünger optimal zu verteilen. Der Pferch indes zieht weiter. So kann beispielsweise ein ganzer Acker Furche für Furche ohne großen Aufwand „gemäht“ und mit neuen Nährstoffen versorgt werden. Aufgabe des Schäfers ist es, die Herde vor Gefahren, aber auch gegen Diebstahl und Verlust zu schützen. Um rund um die Uhr bei den Tieren bleiben zu können, entstand die Idee einer fahrbaren Behausung: Der Schäferkarren wurde erfunden.
Das Hohenheimer Modell
„Da der Schäfer seinen Wagen nur mit Hilfe eines Zugtiers – meist eines Esels oder Ochsens – von einem Standort zum nächsten transportieren musste, setzte sich der einachsige Karren schnell durch“, so Emmerich. Vereinzelt gab es aber auch Zweiachser, so zum Beispiel in Hohenheim. Wilhelm Julius Ludwig von Ellrichshausen, der damalige Leiter der land- und forstwirtschaftlichen Lehranstalt Hohenheim, entwickelte 1829 ein eigenes Modell. „Die Wagen sollten größer und solider gebaut werden“, berichtet Emmerich, „Außerdem sollten sie nicht nur von Schäfern, sondern auch von Weinberg- und Obsthütern genutzt werden.“
Doch nicht nur die höheren Herstellungskosten, auch Größe und Gewicht sprachen gegen das Hohenheimer Modell: „Gerade auf weiteren Strecken konnten die Einachser klar überzeugen. Sie waren wendiger und konnten mit weniger Zugkraft transportiert werden.“ Eines der ersten Modellbauten, die Ellrichshausen von seiner Erfindung anfertigen ließ, ist noch heute im Deutschen Landwirtschaftsmuseum ausgestellt.
Der Schäferkarren des Deutschen Landwirtschaftsmuseums: Im Jubiläumsjahr präsentiert die Universität Hohenheim einmal im Monat ein Objekt aus einem ihrer Museen, aus einer wissenschaftlichen Sammlung oder vom Campusgelände. Der gut 100 Jahre alte Original-Schäferkarren wird heute im Deutschen landwirtschaftsmuseum ausgestellt. Bildquelle: Universität Hohenheim/ Angelika Emmerling
„So romantisch wie man sich das heute vorstellt, war das Schäferleben in der Regel nicht“, weiß Emmerich. „Die Wagen standen oft weit weg von der nächsten Ortschaft, der Schäfer war also ziemlich auf dich allein gestellt – in allen Lebenslagen. Im Winter konnte es außerdem sehr kalt werden.“ Besser ausgestattete Karren verfügen deswegen über einen Ofen. So auch der rote Schäferkarren, den das Deutsche Landwirtschaftsmuseum vor ca. 30 Jahren von einem Schäfer übernahm. „Der Ofen selbst ist heute nicht mehr erhalten, aber man sieht noch die Öffnung für das Ofenrohr“, so Emmerich, „Das spricht dafür, dass der Wagen schon zu den besser ausgestatteten gehörte.“
Ein weiteres Indiz ist die Position der Bettstatt: Während bei den ursprünglichen Schäferwagen die Pritsche an der kurzen Rückwand angebracht war, befindet sie sich bei dem Ausstellungsstück an der Längsseite. Ein Beitrag im „Goldenen Pflug“, dem Magazin des Deutschen Landwirtschaftsmuseums, liefert die Erklärung: „[I]n der Hohenheimer Einrichtung liegt das Bett längs zur Seitenwand, sodass zwischen ihm und der gegenüberliegenden Bank noch Platz für ein Fahrrad […] bestand.“ Dieses ermöglichte es dem Schäfer, zum Einkaufen oder auch zum Essen in das oft weit entfernte nächste Dorf zu fahren – ein Stück Lebensqualität.
Doch die Möglichkeit ein Fahrrad mit zu transportieren ist nicht das einzige im Artikel hervorgehobene Detail: „Sehr schön ist hier auch die Lösung für den Hund, der nämlich durch eine Klappe in eben dieser Seitenwand schlüpfen konnte und so unter dem Bett seines Herren ein verdientes Lager fand.“ „Das war nicht selbstverständlich“, erklärt Emmerich, „Oft mussten die Hunde im Freien zwischen den Rädern des Karrens schlafen.“ Auf diese Weise konnten sie auch nachts die Herde im Auge behalten.