2020 endet die „UN-Dekade der Biodiversität“. Doch der im September veröffentlichte UN-Bericht zeigt: Keines der 20 Aichi-Biodiversitätsziele wurde in den letzten zehn Jahren erreicht. Weltweit bleibt der Schutz der biologischen Vielfalt also eine große Herausforderung – dies gilt insbesondere für Süßwasser-Ökosysteme, die bislang in politischen Prozessen und Regelwerken nicht ausreichend berücksichtigt werden. Ein internationales Forschungsteam unter Leitung des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) spricht 14 Empfehlungen für politische Folgeabkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt aus – mit Blick auf die Süßwasser-Biodiversität.
Süßgewässer sind eine zentrale Lebensgrundlage für Mensch und Natur. Doch die Lebewesen in Flüssen, Seen und Feuchtgebieten sind vielen menschgemachten Problemen ausgesetzt: Veränderungen und Verbau des Lebensraums, Übernutzung, Klimawandel, Verschmutzung und die Bedrohung durch invasive Arten führen zu einem dramatischen Verlust an Arten und Beständen. Die nun veröffentlichten 14 Empfehlungen für den weltweiten Schutz der Süßwasser-Biodiversität basieren auf aktuellem Forschungswissen und Praxiserfahrungen und richten sich an die europäische Politik und Verwaltung. Gegenwärtig wird die Fortsetzung zweier wichtiger internationale Regelwerke zur biologischen Vielfalt ausgearbeitet: die Biodiversitätskonvention (CBD, Übereinkommen über die biologische Vielfalt) und die Biodiversitätsstrategie der Europäischen Union.
„Dies ist ein wichtiger Zeitpunkt, um wissenschaftliche Kenntnisse in den Prozess einzubringen. Politische Strategien und Entscheidungen müssen einen stärkeren Fokus auf die einzigartige Ökologie von Süßwasserleben und die vielfältigen Bedrohungen legen. In bisherigen Regelwerken wird der Schutz der Süßgewässer oft stiefkindlich behandelt. Binnengewässer werden zum Land – weil eingebettet im terrestrischen Bereich – oder zu Meeren und Ozeanen – weil aquatisch – dazugezählt. Dabei zeigt der aktuelle Living Planet Report, dass der Verlust der Süßwasserpopulationen am dramatischsten ist – ein Verlust um 84 Prozent zwischen 1970 und 2016“, betont IGB-Forscherin Sonja Jähnig, die die Studie geleitet hat.
Binnengewässer als eigenen ökologischen Bereich anerkennen:
Empfehlung 1 der Autoren ist daher, Binnengewässer neben dem Land und dem Meer als eigenen ökologischen „dritten Bereich“ mit besonderen Managementanforderungen in zukünftigen Biodiversitätsabkommen zu berücksichtigen. Beispielsweise könnten spezifische Ziele für Süßwasserökosysteme in die Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) Ziel 6 (Ausreichend Wasser in bester Qualität), Ziel 13 (Weltweit Klimaschutz umsetzen), Ziel 14 (Leben unter Wasser) und Ziel 15 (Leben an Land) aufgenommen werden.
Auch die 1993 verabschiedete Biodiversitätskonvention (CBD) fasst die Binnengewässer mit dem terrestrischen Bereich zusammen. Der CBD-Strategieplan für Biodiversität 2011-2020 umfasste 20 Aichi-Biodiversitätsziele. Zu den wichtigsten Zielen mit hoher Relevanz für Binnengewässer gehören Ziel 5 zur Habitatverlustrate, Ziel 8 zur Verringerung der Verschmutzungsbelastung, Ziel 9 zur Verhütung und Kontrolle von invasiven gebietsfremden Arten, Ziel 11 zum Schutz von Land-, Binnenwasser-, sowie Küsten- und Meeresgebieten und Ziel 12 zur Verhinderung des Aussterbens bedrohter Arten bzw. Verbesserung und Stabilisierung der am stärksten im Rückgang begriffenen Arten.
Und auch in Netzwerken von Schutzgebieten wie beispielsweise dem europäischen Natura-2000-Netzwerk, das der Erhaltung gefährdeter oder typischer Lebensräume und Arten dient, sollten angemessene Ziele für Süßwasserlebensräume gesetzt werden. Viele wichtige Süßwasser-Lebensräume wie städtische und landwirtschaftliche Gewässer werden gar nicht explizit berücksichtigt. Die gesonderte Ausweisung von erheblich veränderten Wasserkörpern (HMWBs) in der europäischen Wasserrahmenrichtlinie (EU-WRRL) ist ein gutes Beispiel, wie auch künstliche oder stark vom Menschen geprägte Lebensräume beachtet werden könnten.
„Auch wenn die Bilanz der internationalen Schutzbemühungen bisher sehr ernüchternd ist – wir Wissenschaftler*innen werden weiterhin unsere Expertise einbringen, um auf den dramatischen Verlust der Süßwasser-Biodiversität hinzuweisen und dabei zu helfen, diesen schnellstmöglich abzumildern und zu stoppen. Die formulierten Empfehlungen können helfen, die politischen Rahmenbedingungen für den Schutz der aquatischen Biodiversität zu verbessern“, unterstreicht Sonja Jähnig.
Das empfehlen die Forschenden Politik und Verwaltung:
Anerkennen, dass:
- Binnengewässer neben dem Land und dem Meer einen eigenen, ökologischen „dritten Bereich“ darstellen.
- Süßwasser-Ökosysteme für den Menschen lebenswichtige Ökosystemleistungen erbringen.
- Die Konnektivität über verschiedene räumlich-zeitliche Skalen und hydrologische Dimensionen hinweg erhalten bleiben sollte.
- Gewässer keine isolierten Inseln in der Landschaft sind, sondern sich Umwelteinflüsse aus der Umgebung in ihnen niederschlagen. Das Einzugsgebiet sollte daher die Grundlage jeder Betrachtung sein.
- Süßwasserlebensräume komplex und in andere sozio-ökologische Systeme eingebettet und mit ihnen verbunden sind.
Monitoring und Management verbessern:
- In der EU überschneiden sich die geografischen Verbreitungsgebiete vieler bedrohter aquatischer Arten mit den Schutzgebieten von Natura 2000, der Ramsar-Konvention und weiteren Abkommen. Von einem effektiveren, integrativen Management innerhalb dieser Gebiete würden Natur- wie Klimaschutz profitieren.
- Die Identifizierung von charismatischen Flaggschiffarten ist ein wichtiger Schritt, um die Wahrnehmung der Biodiversitätskrise in Gesellschaft und Politik zu erhöhen. Dafür eignen sich besonders auch große Tiere, wie zum Beispiel Flussdelfine, Nilpferde oder Störe.
- Monitoring und Management von invasiven Süßwasserarten (engl. invasive alien species – IAS) müssen verbessert werden. Die europäische IAS-Liste beispielsweise fußt ausschließlich auf Risikobewertungen, überlässt aber das Risikomanagement den Mitgliedstaaten ohne regionale oder europäische Koordinierung. Eine Harmonisierung zwischen den CBD- und EU-Vertragsstaaten ist dringend geboten.
- Süßwasser-Monitoring-Programme auf nationaler und internationaler Ebene sind für ein adaptatives Management unerlässlich, müssten aber ausgebaut, koordiniert und besser finanziert werden.
- Hydrologische und biologische Daten zu Binnengewässern sollten nach den FAIR-Prinzipien (auffindbar, zugänglich, interoperabel und wiederverwendbar) verwaltet werden, um Zugang zu ihnen und ihre Nutzung zu erleichtern. Dies ist wesentlich, um beispielsweise die Auswirkungen verschiedener Stressoren und Managementmaßnahmen zu bewerten.
- Monitoringprogramme sollten sich aktuelle Forschungsmethoden und neue Datenquellen zunutze machen.
- Es gilt, die strategische Planung im Einzugsgebietsmanagement zu fördern, um den Wasserbedarf von Menschen und Wildtieren auszubalancieren.
Übergreifend gilt:
Nationale und lokale Schutzbemühungen zur biologischen Vielfalt in Binnengewässern sollten stärker auf vorhandene globale Informationsquellen, wie beispielsweise die Rote Liste der Weltnaturschutzorganisation (IUCN), zurückgreifen.
- Künftige politische Entscheidungen sollten die Synergien zwischen Integriertem Wasserressourcen-Management (IWRM) und dem Schutz der Süßwasser-Biodiversität ausbauen.