Europas Stromnetze durchlaufen im Zuge der Energiewende eine tiefgreifende Transformation: von Großkraftwerken hin zu verteilten, intelligent vernetzten, digital gesteuerten, emissionsarmen und vielfältigen Einheiten. Millionen kleine Einspeiseanlagen und Speicher, neue Verbraucher und Akteure treten auf den Plan, die auf den unteren Netzebenen gemanagt werden müssen. Die gewohnt hohe Versorgungsqualität ist zukünftig nur mit der Digitalisierung der Netze und intelligenten Betriebsführungskonzepten erreichbar. Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE hat nun sein neues Digital Grid Lab in Betrieb genommen, in dem die dafür notwendigen Komponenten, Netzregelungskonzepte und Betriebsführungsstrategien erprobt werden.
»Die Integration sowohl zentraler als auch fluktuierender dezentraler Systeme und der Erhalt der Netzstabilität sind eine große Herausforderung für die Netzbetreiber. Mit dem Digital Grid Lab erweitert das Fraunhofer ISE seine Kompetenzen im Bereich Netzsimulation und kann das Netz und die Kommunikation darin in Echtzeit betrachten«, erklärt Prof. Christof Wittwer, Bereichsleiter Leistungselektronik, Netze und intelligente Systeme am Fraunhofer ISE.
Hardware-in-the-Loop Simulationen in Echtzeit
Herzstücke des neuen Labors sind die sechs leistungsstarken Hardware-in-the-Loop (HIL)- Computer: Sie erlauben es, Stromnetze mit bis zu 2000 Knoten im Modell nachzubilden und in zeitlich hoher Auflösung in ihrem Verhalten zu testen. Für Geräte oder Anlagen an Netzknotenpunkten, aber auch für autarke Micro-Grids, smarte Quartiere und Verteilnetze können in dieser hochmodernen Testumgebung auch kritische Netzsituationen simuliert werden, ohne das echte Stromnetz zu gefährden. Acht flexibel schaltbare Leistungsverstärker mit einer Gesamtleistung von 800 kVA erlauben es, einem Prüfling diese simulierte Netzsituation aufzuprägen oder Batterien und Erzeuger (z.B. Photovoltaik-Anlagen) in Hardware nachzubilden. Die moderne Infrastruktur ermöglicht die Betrachtung von AC oder DC Netzen.
»Der digitale Zwilling auf dem HIL-Rechner ist dank einer Bibliothek von Modellen sehr flexibel konfigurierbar. Wir können Stromnetze unterschiedlicher Größen und Spannungsebenen simulieren und sowohl private als auch gewerbliche Energiesysteme nachbilden. Der Zwilling ermöglicht die Evaluierung und Optimierung von Komponenten, Energiemanagementsystemen und Kommunikationsstandards in einer sicheren realitätsnahen Umgebung«, so Dr. Bernhard Wille-Haußmann, der als Gruppenleiter Netzbetrieb und Netzplanung das Labor leitet.
Zur Ausstattung des Digital Grid Labs gehört auch eine Leitwarte, in der neuartige Regelungsalgorithmen und Betriebsstrategien für Smart Grids unter dem Einsatz von Methoden der künstlichen Intelligenz erprobt werden. Der Hardware-in-the-Loop-Rechner nimmt hier die Rolle des digitalen Zwillings ein und modelliert für die Leitwarte ein Stromnetz inklusive dessen Kommunikation. So können neue Regelungskonzepte in einer realitätsnahen Umgebung unter kritischen Bedingungen evaluiert werden, ohne dass eine Gefahr für den echten Netzbetrieb besteht.
Prüfungen für intelligente Elektromobilität
Die beschriebene Infrastruktur erlaubt die Prüfung verschiedener energietechnischer Komponenten, wie Batteriesysteme, Blockheizkraftwerke oder Wärmepumpen. Für den Start des Labors haben die Expertinnen und Experten des Fraunhofer ISE den digitalen Zwilling eines Elektrofahrzeuges entwickelt. Mit diesem emulieren sie ein Elektrofahrzeug oder auch einen ganzen Fahrzeug-Pool mit seinen Leistungsflüssen und seiner Kommunikation mit der Ladestation. So können verschiedene Arten von Ladestationen bezüglich ihrer Netzrückwirkung (nach Netzanschlussrichtlinien VDE AR 4100/4105) und im Zusammenspiel mit intelligenten Messsystemen und Energiemanagementsystemen geprüft werden.
Hierzu gehören neben der
Elektromobilität
auch die Anpassung des Ladestroms an externe Anforderungen, z.B. durch den Netzbetreiber oder Ladestationsbetreiber. Das Digital Grid Lab erlaubt die Prüfung der Netzkonformität und Kommunikation von Ladesteckern und -modi nach den Normen IEC 62196, IEC 61851 und ISO 15118. Der Test von Ladestationen beinhaltet damit Kommunikationstests für die gesamte Signalkette und Evaluierungen des Geräteverhaltens auf externe Markt- und Steuersignale. Da der Teststand im Digital Grid Lab auch mit zahlreichen realen Ladestationen verbunden ist, kann die Kompatibilitätsprüfung von Lademanagementkonzepten herstellerneutral und sicher durchgeführt werden.