Forschende der Technischen Universität (TU) Berlin untersuchen mit ihrer Open-Source-Software PyPSA die Auswirkungen einer neuen Art, mit Ökostrom zu handeln. Dabei wird nicht ein jährliches Kontingent an Strom aus erneuerbaren Energien verkauft, sondern ein stundenweise garantierter Bezug in Abhängigkeit vom tatsächlichen Verbrauch. Während bisher auch bei 100-prozentigen Ökostromtarifen vor allem nachts und bei Windstille oder bei starken Stromverbrauchsspitzen doch auf Strom aus fossilen Quellen zurückgegriffen werden musste, wird bei einem 24/7-Ökostrom-Ansatz der Energieverbrauch eines Nutzenden stündlich mit dem Bezug von sauberem Strom gedeckt.
Damit dies gewährleistet werden kann, müssen die produzierten Mengen an Ökostrom jederzeit genau erfasst und nachverfolgt werden können. Im Auftrag von Google wird die TU Berlin nun mit ihrer Software PyPSA verschiedene Szenarien durchspielen, wie eine 24/7 CO2-freie Stromversorgung der Google-Rechenzentren in Europa ermöglicht werden könnte und welche Auswirkungen dies auf das gesamte Energiesystem hätte.
Google deckt seit 2017 100 Prozent seines weltweiten, jährlichen Stromverbrauchs durch den Bezug von erneuerbarer Energie ab. Eine Reihe großer Unternehmen, auch in Deutschland, agieren genauso. Dieser Ansatz ist zwar ein wichtiger Schritt nach vorn für die Beschaffung sauberer Energie durch Unternehmen, hat aber auch seine Grenzen. Denn oft ist nachts einfach nicht genug Ökostrom aus Windkraft und Photovoltaik verfügbar, um den Bedarf eines Unternehmens zu decken.
Trotzdem kommt der Strom natürlich aus der Steckdose – und zwar aus dem jeweils verfügbaren Strommix im Netz, der oft auch Strom aus Kohle oder Gas enthält. In den bisherigen Verträgen mit den Stromanbieter*innen werden diese Lücken dadurch geschlossen, dass an anderen, sehr sonnigen und windigen Tagen sehr viel Ökostrom produziert wird; mehr als nötig wäre, um zu diesem Zeitpunkt alle Firmen mit „100-Prozent-Ökostrom-Verträgen“ zu beliefern. Im Endergebnis wird also durch das Schließen der Lücken eine über das Jahr gerechnet korrekte Menge an Ökostrom erreicht, obwohl zu vielen Stunden im Jahr nicht genügend sauberer Strom im Netz verfügbar ist, um den tatsächlichen Energieverbrauch zu decken.
Soziale Aspekte des Netzbetriebs
Aus diesem Grund hat sich Google als eine der weltweit größten Abnehmern von CO2-freiem Strom nun zum Ziel gesetzt, bis 2030 jeden Tag und jede Stunde nur noch Strom aus nicht-fossilen Quellen zu beziehen. „Dieser 24/7-Anspruch ist nicht nur ein Ansporn für den Ausbau der erneuerbaren Energien, sondern hat sozusagen auch einen sozialen Aspekt“, sagt Prof. Dr. Tom Brown, Leiter des Fachgebiets Digitale Transformation in Energiesystemen an der TU Berlin. Bei dem derzeitigen Verfahren steht Strom aus Wind- und Solarenergie oft nicht im eigentlich benötigten Maß zur Verfügung, wodurch das übrige Stromnetz gezwungen ist, das System auszugleichen. „Der Ansatz des 24/7-Vertrags kann den Einsatz von sauberer Energie fördern, die wirklich dem Verbrauch entspricht und die Bedürfnisse des Gesamtsystems unterstützt.“
TU Berlin wird den EU-Markt untersuchen
Die von Tom Brown und seinem Team entwickelte Software PyPSA wird nun eingesetzt, um die Chancen, Vorteile und Kosten des 24/7-Ansatzes in Europa zu bewerten. Sie kombiniert globale Wetterdaten, die für Photovoltaik und Windenergie relevant sind, mit der Architektur der Energienetze in den verschiedenen Ländern und mit den Standorten, an denen elektrische Energie erzeugt und gespeichert werden kann.
Während Google für den US-Strommarkt mit der Princeton University und deren Softwarelösung zusammenarbeitet, fiel die Wahl für Europa auf die TU Berlin. „Google freut sich, mit der TU Berlin zusammenzuarbeiten, um die Vorteile der CO2-freien Stromversorgung auf Stundenbasis für das europäische Netz mit dem hochmodernen PyPSA-Modell zu untersuchen. Sehr gerne unterstützen wir diese wichtige Forschungsarbeit und greifen auf die langjährige Erfahrung der TU Berlin bei der Analyse des EU-Strommarktes zurück“, sagt Caroline Golin, Global Head of Energy Markets and Policy bei Google.
Schnelle Analyse möglich
„Das Besondere an PyPSA ist, dass der Code für sehr große Netzwerke und lange Zeitreihen optimiert wurde. Genau das, was man für die Simulation der Schwankungen von Wind und Sonne braucht“, sagt Tom Brown. Da es sich bei PyPSA um eine Open-Source-Software handelt, kann sie leicht an die spezifischen Bedürfnisse verschiedener Nutzer*innen angepasst werden. Außerdem ist sie relativ schnell: Ein erster Überblick über die Netzsituation einzelner Länder dauert nur wenige Minuten. Eine hochauflösende Simulation für die gesamte EU allerdings 12 Stunden. „Wir haben PyPSA außerdem besonders benutzerfreundlich gestaltet, mit einer einfach zu bedienenden Oberfläche und einer ausführlichen Dokumentation.“
Die letzte Meile wird die teuerste
Während der jährlich gemittelte Ökostromverbrauch von Google schon seit 2017 bei 100 Prozent liegt, deckt das Unternehmen weltweit durchschnittlich 67 Prozent seines stündlichen Stromverbrauchs mit sauberer Energie ab. In Deutschland werden es dank eines 24/7-Vertrags mit dem französischen Energieunternehmen Engie bald sogar 80 Prozent sein. Nach vorläufigen Erkenntnissen der TU Berlin wird es jedoch eine größere Herausforderung sein, 100 Prozent zu erreichen: „Eines der ersten Ergebnisse unserer Modellierung ist, dass der Schritt von 80 auf 100 Prozent 24/7-Anteil am Kauf von CO2-freiem Strom genauso teuer ist wie der Schritt von 0 auf 80 Prozent“, erklärt Brown.
Was PyPSA beantworten kann
Die wichtigsten Fragen, die die Forscher nun mit Hilfe von PyPSA beantworten möchten: Welche Technologien sind besonders hilfreich, wenn Stromverbraucher*innen in Europa auf 100 Prozent erneuerbare Energie rund um die Uhr umsteigen wollen? Batterien, die den Netzstrom nur für Stunden effizient speichern, oder die Wasserstofftechnologie, die dies für viele Tage und Wochen tun kann?
Welche Rolle könnte die Geothermie zur Zwischenspeicherung von Strom spielen, und was ist mit fossilen Energiequellen, die durch die Abscheidung von CO2 sauber werden (CCS – Carbon Capture and Storage)? „Wir wollen auch verstehen, wie wichtig es ist, Strom in der Nähe von Googles Rechenzentren zu erzeugen, und ob Berechnungen je nach Wetterlage zwischen den Zentren verschoben werden können“, erklärt Tom Brown. Denn eines sei sicher: „Irgendwo in Europa weht immer der Wind.“
Wachsendes Interesse an 24/7 CO2-freiem Strom
Heute gibt es mehr als 65 Unterzeichnende des „24/7 Carbon-free Energy Compact“, einem neuen Zusammenschluss, der von der internationalen Organisation „Sustainable Energy for All“ organisiert wurde, um 24/7 erneuerbaren Strom zu fördern und den Übergang zu CO2-freien Stromnetzen zu beschleunigen. „Institute, Think Tanks und Netzbetreibende arbeiten bereits seit mehreren Jahren mit unserem Open-Source-Produkt.
Da sich die Vorteile von 24/7 herumsprechen, rechnen wir mit vielen weiteren Studien mit PyPSA in diesem Bereich“, sagt Brown. Eine der Interessent*innen ist die Strom-Netzbetreiber*in 50Hertz mit Sitz in Berlin: „Im Rahmen des EU-Projekts Energy Track and Trace beteiligen wir uns bereits an der Entwicklung eines europäischen Industriestandards für eine 24/7-Darstellung von erneuerbaren Energien. Wir sind deshalb sehr gespannt auf die Ergebnisse des Projekts der Technischen Universität. Schließlich ist die Dekarbonisierung der Industrie einer der wichtigsten Bausteine, um unsere ehrgeizigen nationalen und internationalen Klimaziele zu erreichen“, betont Dr. Dirk Biermann, Geschäftsführer Märkte und Systembetrieb bei 50Hertz.
Handel mit granularen Zertifikaten
Tom Brown sieht auch die Möglichkeit, dass „24/7-Zertifikate“ in Zukunft auf Stundenbasis gehandelt werden könnten. Die von der Industrie ins Leben gerufene Initiative „EnergyTag“ hat gerade einen neuen internationalen Standard für sogenannte granulare Energiezertifikate veröffentlicht, der den „Zertifikaten für erneuerbare Energien“ in Nordamerika und den „Herkunftsnachweisen“ in Europa einen Zeitstempel hinzufügt, der die Stunde oder die halbe Stunde angibt, in der der Strom produziert wurde.
Dies könnte auch für Bescheinigungen nützlich sein, dass Wasserstoff aus der Elektrolyse mit Ökostrom hergestellt wurde. Solche Zertifikate würden die Einführung von grünem Wasserstoff zur Dekarbonisierung von Industrieprozessen beschleunigen.