Eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger ist angesichts der Auswirkungen des Ukrainekriegs auf die Energieversorgung in Deutschland der Meinung, dass die Energiewende beschleunigt werden müsse. Das ist eines der Ergebnisse einer aktuellen repräsentativen Umfrage des Fachgebiets der TU Ilmenau Empirische Medienforschung und Politische Kommunikation im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts „Wissenschaftskommunikation Energiewende“. Sogar für den politisch hoch umstrittenen umgehenden Stopp aller Energieimporte aus Russland spricht sich fast die Hälfte der Deutschen aus, nicht einmal ein Viertel ist dagegen.
Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine hat sich die Debatte über die Energiewende grundlegend verändert. Für viele Politiker ist Energieversorgung zu einer „Frage von nationaler Sicherheit“ geworden und erneuerbare Energien werden als „Freiheitsenergien“ bezeichnet. Unter dem Druck, von fossilen Energien aus Russland abhängig zu sein, erfährt die Energiewende höchste politische Priorität und die Bundesregierung will den Ausbau erneuerbarer Energien massiv beschleunigen. Laut der Befragung der TU Ilmenau von April dieses Jahres wird eine beschleunigte Energiewende von einer klaren Mehrheit der Bevölkerung (58%) unterstützt. Weit weniger als die Hälfte (23%) ist gegen eine Neuausrichtung.
Bereits vor Ausbruch des Ukrainekriegs im Februar dieses Jahres befürwortete eine deutliche Mehrheit der Bundesbürgerinnen und -bürger die Umsetzung der Energiewende. Nach einer ebenfalls vom Fachgebiet Empirische Medienforschung und Politische Kommunikation im August letzten Jahres durchgeführten Befragung von 2025 Bürgerinnen und Bürgern im Alter zwischen 14 und 65 Jahren wurde die Umsetzung der Energiewende von 74 Prozent befürwortet, 15 Prozent lehnten sie ab.
Dr. Dorothee Arlt, die beide Studien durchgeführt hat, zieht daraus den Rückschluss, dass die grundsätzliche Haltung der Bevölkerung zur Energiewende außerhalb der gegenwärtigen Krisensituation betrachtet werden muss: „Die Energiewende ist kein neues Thema. Bereits vor der Bundestagswahl im September 2021 war der Umbau des Energiesystems ein zentrales Wahlkampfthema und wurde von einer deutlichen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unterstützt. Allerdings hat sich der Blickwinkel der Menschen auf die Energiewende durch den Krieg verlagert. Wurde sie damals vor allem in Zusammenhang mit dem Klimawandel diskutiert, stehen nun steigende Preise für fossile Energien und die gefährdete Versorgungsicherheit im Fokus.“
Vor dem Hintergrund der veränderten Ereignislage durch den Ukrainekrieg beschäftigt sich die neue Studie auch mit der Frage, welche energiepolitischen Maßnahmen zur Sicherung der Energieversorgung, zur finanziellen Entlastung und zur Einsparung von Energie die Bevölkerung unterstützt und welche eher auf Ablehnung stoßen. Breite Unterstützung finden insbesondere eine stärkere staatliche Förderung energetischer Sanierungen von Altbauten (69%) und die finanzielle Entlastung der Bevölkerung durch eine Festlegung von Obergrenzen für Energiepreise (64%) und Ausgleichszahlungen für die steigenden Energiepreise an finanziell Schwächere (63%).
Auch eine verpflichtende Installation von Photovoltaikanlagen auf allen bestehenden Industrie- und Gewerbebauten (57%) und bei allen Neubauten (55%) wird von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Bei anderen Maßnahmen ist hingegen deutliches Konfliktpotential erkennbar: Während die Einführung eines Tempolimits von 120 Stundenkilometern auf Autobahnen von knapp der Hälfte der Befragten befürwortet wird, lehnt gleichzeitig rund ein Drittel diese Maßnahme ab.
Sogar für den politisch hoch umstrittenen umgehenden Stopp aller Energieimporte aus Russland sprechen sich 48 Prozent der Befragten aus und nur 21 Prozent sind dagegen. Insgesamt finden sich für die meisten der vorgeschlagenen Maßnahmen relative Mehrheiten in der Bevölkerung. Mehr Ablehnung als Zustimmung gibt es nur für drei Vorschläge: Die Einführung eines Tempolimits von 30 Stundenkilometern im Stadtverkehr, die Einführung eines Sonntagsfahrverbots und die Schließung von Industrieanlagen, die für die Produktion sehr viel Energie benötigen.
Nach Einschätzung der Befragten wird im Zusammenhang mit der Energieversorgung in den Medien heute weniger über Klimaschutz berichtet als acht Monate zuvor, also vor Ausbruch des Ukrainekriegs. Ein leichter Anstieg wurde beim Ausbau von Windkraft (plus 8%) und der Nutzung von Solarenergie (plus 7%) wahrgenommen. Die stärkste Veränderung ist jedoch bei der Berichterstattung über den Import von Energieträgern wie Erdgas und Erdöl nach Deutschland erkennbar: Während 2021 nur 27 Prozent der Befragten meinten, darüber werde in der Berichterstattung über die Energiewende häufig berichtet, sind es gegenwärtig 63 Prozent – ein Anstieg um 36 Prozentpunkte.
Dorothee Arlt sieht beim Thema Energiewende aktuell viel Verunsicherung: „Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass bei fast allen Maßnahmen ein großer Anteil der Menschen keine Meinung hat oder sich nicht entscheiden konnte oder wollte.“ Dazu trug offenbar auch die Berichterstattung der Medien bei. Die Hälfte der Befragten gibt an, dass sie durch die gegenwärtige Energieberichterstattung verunsichert (50%) und verängstigt (49%) ist.