Erst kartierten sie das Genom des Weizens, jetzt rekonstruierten sie seine Züchtungsgeschichte: Wissenschaftler des Helmholtz Zentrums München haben in der „WHEALBI-Studie“ gemeinsam mit anderen Forschenden aus Europa die genetische Vielfalt verschiedener Weizensorten untersucht. Sie fanden heraus, welche Getreide unsere Vorfahren kultivierten, woher der heutige Weizen stammt und was der Kalte Krieg damit zu tun hat.
Die Bevölkerung wächst, das Klima verändert sich und Nahrungsressourcen könnten in Zukunft knapp werden. Angesichts der drohenden Szenarien ist auch die Landwirtschaft gefragt: Was könnte den Anbau von Nutzpflanzen ertragreicher machen? Lassen sich bestehende Sorten durch Züchtung optimieren? Um den Ertrag heute genutzter Sorten weiter zu verbessern, hat ein internationales Wissenschaftsteam die genetische Vielfalt verschiedener Weizenarten untersucht – und dabei erstaunliche Zusammenhänge zur menschlichen Geschichte entdeckt.
Erbgut von 480 Weizenarten war unter der Lupe
Auch Wissenschaftler des Helmholtz Zentrums München waren an der groß angelegten und von der Europäischen Union geförderten „WHEALBI-Studie“ beteiligt. Gemeinsam mit Teams aus Frankreich, Italien, Ungarn, der Türkei und anderen europäischen Ländern nahmen sie das Erbgut von 480 Weizenarten unter die Lupe, darunter wilde Sorten, alte Kulturpflanzen und sogenannte Hochleistungssorten. Die Genexperten fanden nicht nur mehr über die Evolution und Kultivierung des heutigen Brotweizens heraus, sondern konnten dessen Entwicklung sogar mit geografischen und geopolitischen Ereignissen der Menschheitsgeschichte in Verbindung bringen.
So entstand etwa der moderne Brotweizen vor rund 10.000 Jahren im Gebiet der heutigen Türkei aus einer Kreuzung aus Hartweizen und eines Wildgrases (Aegilops tauschii), während der uns bekannte Dinkel von kultiviertem Emmer und verschiedenen Brotweizensorten abstammt. „Das Vorkommen von Kulturpflanzen ist eng an die Besiedelungsbewegung der Menschen über die Jahrtausende gekoppelt“, so Bioinformatiker Michael Seidel, gemeinsam mit Daniel Lang einer der Erstautoren der Studie. Beide arbeiten in der selbstständigen Abteilung Genomik und Systembiologie pflanzlicher Genome (PGSB) am Helmholtz Zentrum München.
Eine weltweite grüne Revolution
Das Team des PGSB identifizierte in den heute genutzten Brotweizensorten drei Genpools, die eng mit historischen Begebenheiten zusammenhängen: einen aus Hochertragssorten, die ursprünglich am nördlichen Rand der syrischen Wüste wuchsen und im Rahmen der „Grünen Revolution“ weltweite Verbreitung erfuhren, sowie zwei Genpools aus West- und Zentraleuropa. Letztere lassen sich auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen und spalteten sich zwischen 1966 und 1985 auf – als Folge der geopolitischen und sozioökonomischen Trennung während des Kalten Krieges. Als 1989 der Eiserner Vorhang fiel, vermischten sich die Weizenlinien wieder, wie ihre Gene verraten. Sogar die Entstehung und Ausweitung der Europäischen Union lässt sich heute im Erbgut des Weizens ablesen: Weizenlinien, die vorher vornehmlich in Zentraleuropa angebaut wurden, finden mittlerweile in ganz Europa Verwendung.
„Diese Beispiele demonstrieren den menschlichen Einfluss auf die Evolution von Nutzpflanzen“, so Bioinformatiker Lang vom Helmholtz Zentrum München. „Und zwar über ihre eigentliche Entwicklung zur Kulturpflanze hinaus.“
Die genetische Vielfalt des Weizens zu kennen, ist Voraussetzung dafür, die moderne Weizenzüchtung zu optimieren. Denn nur, wer die für die Zucht entscheidenden Merkmale kennt, kann zukünftige Sorten produktiver werden lassen – und so der wachsenden Weltbevölkerung und dem bevorstehenden Klimawandel begegnen. Zusammen mit Mais und Reis zählt Weizen zu den drei wichtigsten Grundnahrungsmitteln der Welt. Ihn trotz knapper werdenden Boden- und Wasserressourcen unter möglicherweise schwierigen klimatischen Bedingungen anzubauen, könnte in Zukunft überlebenswichtig sein.
Die an der WHEALBI-Studie beteiligten Züchtungsforscher identifizierten deshalb bis dato unbekannte Gene, die den Ertrag, die Blühzeit, die Höhe sowie die Standfestigkeit der Weizenpflanzen beeinflussen. Für den korrespondierenden Autor bei der Studie, Dr. Georg Haberer vom PGSB, ist das erst der Anfang: „Wir erwarten eine Vielzahl weiterer Arbeiten, die diese Erkenntnisse für die Züchtungsforschung nutzbar machen werden.“