Der Stillstand, der Virus und die Klimakrise

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„Die Pandemie hat die Regierungen in einen schwierigen Spagat zwischen der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und des Wohlbefindens sowie der Aufrechterhaltung der Gewinnmargen und Wachstumsziele gezwungen. Letztendlich haben die Aussicht auf eine hohe Zahl von Todesopfern und der Zusammenbruch der Gesundheitssysteme die Länder gezwungen, Millionen von Menschen zu isolieren. Diese umfassenden und beispiellosen Maßnahmen der Regierungen und internationaler Institutionen konnten verwundern, wenn wir an den zweiten globalen Notfall denken, der dringend Maßnahmen erfordert – den Klimawandel“, schreibt der Antwerpener Politikwissenschaftler Vijay Kolinjivadi in seinem Beitrag „Der Ausbruch des Coronavirus ist Teil der Klimakrise“ im Internetmagazin von Aljazeera.

Und er wundert sich weiter über die geringe Beachtung der Klimafrage in Zeiten von COVID-19, so der Wissenschaftler weiter, da diese doch für die Corona-Pandemie und andere Ausbrüche verantwortlich sei. Der Bedarf an immer mehr natürlichen Ressourcen habe die Menschen gezwungen, in verschiedene natürliche Lebensräume einzudringen und sich noch unbekannten Krankheitserregern auszusetzen. Ein Faktum, das inzwischen unter dem Stichwort Zoonese einen festen Platz auch in der deutschen Berichterstattung gefunden hat. Aber was nun? Für die Debatte nach der Krise werden inzwischen schon die ersten Geschütze in Aufstellung gebracht. Die Munition, die zum Abschuss kommen soll, trägt Namen wie „Pause für den Umweltschutz“, „Wirtschaftswachstum statt grüner Gängelung“ oder irgendetwas von Trump.

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Vijay Kolinjivadi, geboren in den USA als Kind einer indischstämmigen Familie und ausgestattet mit viel internationaler Erfahrung, steht hier für eine andere Sicht der Dinge: „Wir brauchen einen gerechten Klimawandel, der den Schutz der Armen und Schwächsten gewährleistet und in unsere Pandemie-Reaktion integriert ist. Dies würde nicht nur die Klimakatastrophe umkehren, in der wir bereits leben, sondern auch das Risiko minimieren, dass neue Pandemien wie die derzeitige ausbrechen.“ Für ihn müsse ein gerechter Klimawandel Wirtschaftsreformen beinhalten, um ein „geplantes Wachstum“ einzuführen, das das Wohlbefinden der Menschen über die heute oft allein zählenden Gewinnmargen bringe. Der erste Schritt dazu bestünde darin, sicherzustellen, dass die von den Regierungen weltweit angekündigten Konjunkturpakete nicht nur Unternehmen ausgereicht würden, sondern auch den gesamtgesellschaftlichen Ziel dienen.

Die neuen Erfahrungen, die wir alle in der Krise gemacht haben

Er fordert, „dass stattdessen staatliche Mittel für die dezentrale Erzeugung erneuerbarer Energien bereitgestellt werden, um mit der Umsetzung des Green New Deal zu beginnen und neue bedeutende Arbeitsplätze in der Wirtschaftskrise nach COVID-19 zu schaffen. Parallel dazu sollten wir die Bereitstellung einer universellen Gesundheitsversorgung und freien Bildung, die Ausweitung des Sozialschutzes für alle schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen und die Priorisierung von erschwinglichem Wohnraum sicherstellen.“ Die neuen Erfahrungen, die wir alle in der Krise gemacht haben, fließen auch in Kolinjivadis Denken ein: „Es könnte uns an Lebensstile und Arbeitsmuster gewöhnen, die den Verbrauch minimieren. Es könnte uns ermutigen, weniger zu pendeln und zu reisen, den Hausmüll zu reduzieren, kürzere Arbeitswochen zu haben und uns mehr auf lokale Lieferketten zu verlassen – also Maßnahmen, die nicht den Lebensunterhalt der arbeitenden Menschen beeinträchtigen, sondern die Wirtschaftstätigkeit von einer globalisierten zu einer lokalisierten verlagern. In der Diskussion, die uns in und nach der Krise noch einige Zeit begleiten wird, spielen die von Kolinjivadi angesprochenen internationalen Lieferketten eine entscheidende Rolle, denn sie sind die Hauptschlagadern der Globalisierung und zur Zeit unsere schmerzhafteste Schwachstelle in der Versorgung.

Die Globalisierung war schon vor dem Virus unter Beschuß

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Shannon K. O’Neil vom New Yorker Council on Foreign Relations schreibt im Online-Magazin von Forgein Policy: „COVID-19 untergräbt die Grundprinzipien der globalen Fertigung. Die Unternehmen werden nun die mehrstufigen Lieferketten in mehreren Ländern, die heute die Produktion dominieren, überdenken und verkleinern. Die globalen Lieferketten gerieten bereits unter Beschuss – wirtschaftlich aufgrund steigender chinesischer Arbeitskosten, des Handelskrieges von US-Präsident Donald Trump und der Fortschritte in den Bereichen Robotik, Automatisierung und 3D-Druck sowie politisch, insbesondere aufgrund realer und wahrgenommener Arbeitsplatzverluste in reifen Volkswirtschaften. COVID-19 hat inzwischen viele dieser Verbindungen unterbrochen: Durch Fabrikschließungen in betroffenen Gebieten sind andere Hersteller – sowie Krankenhäuser, Apotheken, Supermärkte und Einzelhandelsgeschäfte – ohne Lagerbestände und Produkte.“

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Es könnten sich Gewohnheiten ändern

Und hier mahnt Prof. Richard Portes, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der London Business School, und sagt in der BBC, dass sich die Dinge ändern müssten, da Unternehmen und Menschen nun erkannt hätten, welche Risiken sie eingegangen sind. „Schauen Sie sich den Handel an“, erklärte er im britischen Traditionssender weiter, „Nachdem die Lieferketten durch das Coronavirus unterbrochen worden waren, suchten die Menschen zu Hause nach alternativen Lieferanten, auch wenn diese teurer waren.“ schreibt der Ökonom und führt fort: „Wenn Menschen inländische Lieferanten finden, bleiben sie bei ihnen … wegen dieser wahrgenommenen Risiken.“ Genau dieser Frage, wie zukünftige Lieferketten aussehen werden und welche Veränderungen dies für die regionalen Strukturen hier in Europa haben wird, werden wir in „Die Linde“ weiter nachgehen.