Der Klimawandel heizt die Giftproduktion im Meer an

Einige Dinoflagellaten produzieren Toxine, die für den Menschen gefährlich werden können. Eine der häufigsten Fischvergiftungen, Ciguatera, wird durch Arten der Gattung Gambierdiscus ausgelöst. Senckenberg

Neues Dinoflagellaten-Bestimmungsbuch beleuchtet Bedeutung der marinen Einzeller.
Heute legt die Meeresbiologin Dr. Mona Hoppenrath von Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven gemeinsam mit internationalen Kolleg*innen die zweite, erweiterte Auflage des weltweit umfassendsten Bestimmungsbuchs für marine, benthisch lebende Dinoflagellaten vor: „Marine benthic dinoflagellates – their relevance for science and society“. Neben der Beschreibung zahlreicher neuer Arten, erstmals auch anhand molekulargenetischer Daten, ordnet das Buch die weltweiten Gefahren durch die oftmals toxischen Einzeller ein – aber auch ihren Nutzen für die Wissenschaft und als potenzielle Nährstoff- und Energielieferanten.

Die mikroskopisch kleinen Dinoflagellaten sind in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, dabei ist ihr Einfluss auf Natur und Mensch beträchtlich. Weltweit in Salz- und Süßgewässern verbreitet spielen die winzigen Einzeller eine wichtige Rolle in aquatischen Nahrungsnetzen – die meisten Arten als Teil des Planktons, die benthischen in den Sedimenten am Meeresgrund oder epiphytisch auf Algen, Seegras oder Korallen.

„Einige Arten produzieren Toxine, die beim Menschen ernsthafte Vergiftungen hervorrufen können und auch für andere Meeresorganismen schädlich sind“, erläutert Dr. Mona Hoppenrath, Wissenschaftlerin bei Senckenberg am Meer in Wilhelmshaven und Erstautorin des Buchs.

„Durch den Verzehr von Fisch und anderen Meeresfrüchten können etwa über die Nahrungskette angereicherte Giftstoffe von Gambierdiscus-Arten die Ciguatera-Krankheit auslösen, eine der häufigsten Fischvergiftungen.“ Eine Algenblüte der Gattung Ostreopsis wiederum brachte in den 1990er-Jahren Hunderte von Urlauber*innen an der ligurischen Küste ins Krankenhaus.

„Als Folge des Klimawandels werden solche Fälle wahrscheinlich immer häufiger vorkommen“, ergänzt Hoppenrath.

Der vorliegende Band zeigt eindrucksvoll den Artenreichtum der marinen Einzeller, sein größter Teil ist der Taxonomie benthischer Dinoflagellaten in ihrer erstaunlichen Formenvielfalt gewidmet. 242 Arten in 63 Gattungen werden im Detail vorgestellt, illustriert mit mehr als 240 Farbabbildungen, etwa 250 elektronenmikroskopischen Aufnahmen und mehr als 330 Zeichnungen. Seit dem Vorgänger „Marine benthic dinoflagellates – unveiling their worldwide biodiversity“ sind 64 neue Arten, 20 neue Gattungen und 19 neue Kombinationen – also Umbenennungen – hinzugekommen. „Gleichzeitig zeigen wir sicherlich nur die ‚Spitze des Eisbergs‘“, so Hoppenrath, „Es ist davon auszugehen, dass neben den etwa 2.500 bekannten lebenden Dinoflagellaten-Arten viele weitere existieren, die noch nicht beschrieben sind!“ Parallel zur Neuauflage werden über die Website des „Centre of Excellence for Dinophyte Taxonomy“ (CEDiT) Bestimmungshilfen und Matrixschlüssel zur Gattungs- und Art-Bestimmung abrufbar sein: www.dinophyta.org/identification-keys.

Neu ergänzt ist ein Kapitel zur Relevanz der Dinoflagellaten für Wissenschaft und Gesellschaft, das die Gefahren durch die Einzeller, aber auch ihren möglichen Nutzen beleuchtet. „Dass beispielsweise einige Arten der Gattung Gambierdiscus über den Verzehr bestimmter tropischer und subtropischer Fische und Meeresfrüchte die lebensbedrohliche Ciguatera-Vergiftung auslösen können, wissen wir seit den 1970er-Jahren. Viele Küstenländer haben in der Folge Überwachungsprogramme eingeführt. Weltweit werden jährlich circa 20.000 bis 60.000 Fälle registriert“, berichtet Hoppenrath. „Dabei ist die Dunkelziffer groß: Schätzungsweise gibt es allein in den USA knapp 16.000 Vergiftungen im Jahr – möglicherweise werden weltweit nur 10 Prozent der Fälle den Gesundheitsbehörden gemeldet.“

Der fortschreitende Klimawandel scheint das Problem noch zu verstärken: Korallenbleichen infolge steigender Meerestemperaturen und andere Beeinträchtigungen von Korallen-Ökosystemen führen offenbar zu einem verstärkten Vorkommen von Gambierdiscus, weshalb der Weltklimarat davon ausgeht, dass Ciguatera-Vergiftungen weiter zunehmen werden. Gleichzeitig gibt es Hinweise, dass sich Gambierdiscus inzwischen auch in gemäßigte Regionen ausgebreitet hat.

Neben den gesundheitlichen Gefahren verursachen die toxischen Einzeller auch beträchtliche wirtschaftliche Schäden. In den USA entstehen durch Ciguatera schätzungsweise 17 Millionen US-Dollar Gesundheitskosten im Jahr. Von Einfuhrverboten für Riff-Fische infolge gemeldeter Vergiftungen werden insbesondere kleine tropische und subtropische Inselstaaten empfindlich getroffen, die stark von der Fischerei abhängig sind.

Auf der anderen Seite können Dinoflagellaten aber auch eine für den Menschen nützliche Ressource sein, beispielsweise als Lieferanten von wichtigen ungesättigten Fettsäuren für eine ausgewogene Ernährung. „Die planktische Art Crypthecodinium cohnii wurde bereits in der industriellen Produktion von Omega-3-Fettsäure als Nahrungsergänzungsmittel verwendet“, erzählt Hoppenrath.

„Größtenteils sind die Möglichkeiten der industriellen Verwendung benthischer Dinoflagellaten, die Omega-3-Fettsäuren in großen Mengen produzieren, aber noch weitgehend unerforscht – hier gibt es großes Potenzial.“

Auch Biokraftstoffe könnten möglicherweise aus bestimmten Arten gewonnen werden. In der medizinischen Forschung haben sich einige der toxischen Verbindungen wiederum als vielversprechend für die Entwicklung von Therapeutika, beispielsweise in der Krebstherapie, gezeigt.

„Nicht zuletzt und überraschenderweise haben sich benthische Dinoflagellaten in der Naturwissenschaft für die evolutionäre Grundlagenforschung als sehr nützlich und wichtig erwiesen – zum Beispiel bei der Erforschung der Photosynthese und verschiedener Prozesse in Zellkernen. Es sind faszinierende Lebewesen, die wir aus vielen Gründen weiter erforschen müssen!“, schließt Hoppenrath.